Sinne, Seile, Störfaktoren

Am Wochenende fand zum ersten Mal das Glitch-Festival in St.Gallen statt. Es wollte queerfeministische, inklusive Räume gestalten, veraltete Strukturen aufbrechen und die Diversität der Lust zelebrieren. Der Festival-Rückblick.

Von  Bianca Schellander
Die Performance von S_WITCHES am Samstag in der Grabenhalle. (Bilder: Angelina Wegmann)

Ich liege auf dem Boden der Grabenhalle und versuche, das Surren der Musikanlage und der Kühlschränke im Hintergrund zu ignorieren. In meinem Blickfeld hängen die Plakate von Konzerten der letzten Jahrzehnte, Grimassen grinsen von dort herunter. Noch wenige Minuten zuvor haben andere Teilnehmer:innen des Workshops «Körper- und Lustwahrnehmung» ihre Assoziationen zum Begriff Lust laut im Raum ausgesprochen. Sie schwirren in meinem Kopf: Zärtlichkeit, Vertrauen, Konsens, Konsens, Konsens…

Ich denke daran, wie oft schon Bier auf dem Boden unter mir verschüttet wurde, wie ich (die Abwesenheit von) Konsens in der linken, aber auch in der Klubszene seit den 2000er-Jahren wahrgenommen habe, wie ich das alles nicht mit Lust oder meinem Körper verbinden kann. Ich breche den Versuch hier ab und verlasse den Workshop.

«Lasst euch inspirieren»

Was für ein Start in Tag zwei des Glitch Festivals. Es wühlt mich auf und kratzt an Themen, die es zu hinterfragen gilt. Und genau das will das grosse Team um Claude Bühler, Morena Barra und Nicole Bühler ja auch. Es soll sinnlich sein und experimentell.

Untamed Love eröffnete einen Pop-up Sex Shop fürs Glitch.

Morena Barra eröffnete die Feierlichkeiten am Tag zuvor mit den Worten: «Lasst euch inspirieren, vielleicht auch irritieren und uns zusammen verschiedene Arten von Lust abfeiern!» Daraufhin wird der erste Kurzfilmblock mit ethisch produzierten, sexuellen Inhalten gezeigt. Am Samstag folgen zwei weitere solcher Blocks, unterbrochen von Performances, aufgelockert durch Kunstinstallationen im Palace. Aber das alles lässt sich ja schon im Programm lesen. Wie sah dieses zum ersten Mal durchgeführte Festival jetzt konkret aus?

Das Irritieren funktioniert schonmal einwandfrei. Bei der Kuration der (Kurz-)Filme wurde auf eine breite Diversität gesetzt. Bei sensual experiments werden bewegte Bilder gezeigt, die artistisch in Szene gesetzt sind. Die «glitchy»-Filmweise einer Präsentation fordert die Augen der Zuseher:innen genauso heraus wie die aufeinanderfolgenden Makroaufnahmen, die ständig aus dem Fokus fallen.

Assoziationen zur Natur, zwischen Tieren und Geschlechtsorganen werden gezogen. Bei Play With Limits sticht vor allem eine «Post-Porn-Production» heraus, die in einer quasi apokalyptischen Welt spielt. Sie ruft visuelle Mutationen auf den Bildschirm und schreit in grellen Farben. Die mit Trigger-Warnung versehene Szenen im nächsten Kurzfilm wirken dann fast schon entspannend. Verschiedene Animationen dazwischen lockern das Publikum wieder auf, ein breites Spektrum unterschiedlicher Körper wird repräsentiert. Auf die Ohren gibt es Schreie und viel Stöhnen, schrille Töne und tiefe Bässe, ASMR, lange Stille und authentische Gespräche während verschiedener Outtakes.

Viele Meter Seil für die Beziehung

Die Performances finden am Samstag im Palace statt. Neben der Bühne steht der Pop-up Sex Shop von Untamed Love, die Säulen erstrahlen im Glitzer-Glitch-Style. Jeffi Lou setzt unzensiert sexualisierte (Macht-)spiele musikalisch um. Missactiv bewegt sich sinnlich in einem eigens dafür installierten Minipool zu sphärischen Tönen und nebulösem Grünlicht. S_WITCHES wiederum demonstrieren mit bilingualem Gesang und vielen, vielen Metern Bondage-Seil die Fluidität einer Beziehung, die Geschichte von Verführung und Manipulation.

S_WITCHES performen in Fränzösich und Englisch.

Der Abend schliesst mit der «Pleasure Positive Party» in der Grabenhalle. In einem extra aufgebauten Care-Zelt auf der Bühne kann man sich zurückziehen und unter anderem üben, Dinge anzusprechen, sich besser kennenzulernen. Ein offener Umgang miteinander, bei dem sich alle Beteiligten wohlfühlen, steht sowohl hier wie auch an den übrigen Tagen an erster Stelle.

Der schon zuvor bei jedem Block wiederholte Satz, dass man jederzeit den Raum verlassen, sich bei Unwohlsein dem Awareness-Team zuwenden kann und niemand zu irgendwas gezwungen ist, ist gelebter Konsens und wird auch in Anspruch genommen.

Die Q&As nach den Filmen ermöglichen es zum Teil, mehr Einsicht in die Intention der Künstler:innen zu erhalten, lassen mich aber dennoch mit Fragen zurück. Fragen, die irgendwie trotz all der Offenheit keinen Platz finden, wie: Wo wird die Grenze zwischen Mainstream Pornografie und queerfeministischen, emanzipierten Pornos gezogen, sollten zweitere in den Umlauf der Porno-Mainstreamplattformen kommen? Warum wird auf die Betonung von «Pleasure Positivity» und die zusammenhängende Abgrenzung zu «Sexpositivity» so viel Wert gelegt, während gleichzeitig Sexualität so viel Raum in den Filmen einnimmt? Wo liegen hier die Unterschiede? Wie gehe ich mit den «unwoken» Besucher:innen um, die meine Freund:innen fragen: «Und was bisch etz au du?»

Und das ist vermutlich das, was für mich am meisten gefehlt hat: ein Raum für verbalen Austausch der ganzen Eindrücke mit Expert:innen oder den Kurator:innen. Das Festival warb nämlich auch mit ausführlicheren Talks. Auf dem Programmpunkt stand aber tatsächlich nur ein Einziger. Und der wurde leider krankheitsbedingt abgesagt.

Gelebter Konsens

Wohin nun mit all den Fragen, all den Szenen die mich immer noch beschäftigen? Kann ich jetzt eine klare Position beziehen, wenn es um ethisch produzierte, queerfeministische Pornos geht? Fühle ich mich nun inspiriert, oder vielleicht auch nur überfordert von all dem audio-visuellen Input, mit dem ich jetzt irgendwie alleine zurückbleibe?

Glitch ist das Störmoment im System. Es wollte wild und ungewohnt sein. Das hat es geschafft. Ob es jedoch tatsächlich, wie im «Zine» beworben, die «etablierte Kulturlogik» hinterfragen und die «Interpolation der Hinterlandkultur» zelebrieren konnte, während die selbstdeklarierte Inklusionspolitik umgesetzt wurde, das müssen die Teilnehmer:innen für sich selbst entscheiden. Mir bleibt das Glitch in positiver Erinnerung – auch der «abgebrochene» Workshop. Schliesslich konnte ich so eine individuelle Grenze spüren und war nicht zur Überschreitung dieser gezwungen. Gelebter Konsens also.