Seide, Koks und tote Chinesen
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Die Mafia kennt man ja nur aus Filmen und Serien und hierbei kommen meist stereotype Klischees zum Einsatz. Wortkarge Padres, die auf ihren italienischen Fincas sitzen und mit einer Handbewegung für das Ausrotten des gesamten gegnerischen Clans sorgen. Man denkt an Hinterhöfe, Bars und brennende Autos. Die Mafia bedeutet nichts Gutes, aber irgendwie hat sie doch auch ihren eigenen Charme – ein Hauch Espresso schwebt immer mit, über all den Blutlachen.
Nicht so im Theater Konstanz. Was man hier in der Spiegelhalle zu sehen bekommt, die mit ihrer alten Fabrikoptik gar nicht gross geschmückt werden muss, hat so rein gar nichts mit Klischee und Charme zu tun. Hier geht es um knallharte Fakten. Präsentiert werden Zahlen, Daten und Statistiken rund um ein weltweit tätiges Unternehmen, das auch Anhänger in unserer Region hat: die Camorra. Wie in Momentaufnahmen wird gezeigt, um was es dabei geht.
Kapitalismus mit eigenen Regeln
Die kriminelle Organisation agiert wie ein Wirtschaftsunternehmen mit anarchistischem Regelwerk. In Neapel kommen täglich Tausende von Containern an. 60 Prozent davon werden nicht kontrolliert. 400 Millionen Euro wandern so jährlich direkt in die Taschen der Mafiosi. Geld wird ausserdem gemacht mit gefälschten Designerklamotten, die in riesigen Produktionsstätten von illegalen Chinesen gefertigt werden.
Dies wird im Stück mit dem Schneider Don Pasquale (Ingo Biermann) dargestellt. Er hat einen Hosenanzug für Angelina Jolie genäht und stellt die Produktionsbedingungen der Manufakturen als moderne Sklaverei dar.
Ihm begegnen die üblichen Verdächtigen. Diese wären zum Beispiel Franko (Jörg Dathe), der schmierige Boss, ständig am Handy, ein piekfeiner Geschäftsmann. Oder Mariano, der studierte BWLer, der mit grossen Plänen in Richtung Spitze will. Trinkwasser könnte man doch in alte Plastikflaschen füllen und an die Flut von Flüchtlingen verkaufen – das wäre eine super Zusatzeinnahme zur illegalen Müllentsorgung unter den grünen Hügeln im Umland Neapels, die giftige Berge von der Höhe des Mount Everests birgt. Oder auch zum Drogenmarkt, der eine feste Einnahmequelle der Camorra darstellt. Die chemischen Substanzen werden gestreckt und zu Niedrigstpreisen in die Blutbahnen der anreisenden Junkies gepumpt. So wird getestet, ob die Dosis überlebt werden kann.
Ungelerntes Schauspieltalent
Dann wäre da noch Pikachu (Julian Härtner), der Handlanger in der Lederjacke, der abgebrüht ist und auf Junkies pisst – im Gegensatz zu seinem Lehrling Kit Kat. Er wird dargestellt von Julian Jäckel, der seine erste grosse Rolle am Theater antritt und diese gleich mit einer Bravour meistert, von der manche träumen können. Ein grosses Talent!
Abgesehen von diesen beiden Figuren zeigt sich nur hie und da eine Prise Klischee. Beispielsweise wenn der Bezug zum christlichen Glauben dargestellt wird. Dann stehen die harten Männer, die soeben noch geschossen haben, andächtig vor einem Altar und zünden Kerzen an, wie Burschen an der Erstkommunion. Den Bossen fehlt die italienische Eleganz und die Autorität mit Zigarrenstummel im Mundwinkel, mit der man gewohnheitsmässig rechnen würde.
Gomorrha im Theater Konstanz: bis 27. Mai.
Infos und Spielplan: theaterkonstanz.de
Auch das gänzliche Fehlen einer Frau im Stück entspricht der Realität. Die Mafia ist eine reine Männerdomäne. In den Filmen gibt es ab und an eine atemberaubend schöne Grazie, die auf Highheels Espresso serviert, aber auf derlei Schmuckwerk wird in dieser Inszenierung verzichtet. Das unterstreicht den dokumentarischen Charakter des Stücks. Es zeigt sich, dass man die Mafia nicht an Klischees erkennen kann und dass sie auch unter uns ist – mehr als ein Gangstermärchen aus dem Land, wo die Zitronen blühn.
Ohne moralischen Zeigfinger
Unterstrichen wird dies durch Textloops und Mikrophon-Monologe, die den Spielablauf immer wieder unterbrechen, wie Fussnoten eine wissenschaftliche Abhandlung. Diese könnte den Titel «Das Unternehmen Camorra in drei Kapiteln» tragen, und so ist auch das Begleitheft zum Stück von Jürgen Roth benannt.
Regisseur Adam Nalepa und Dramaturgin Anna Langhoff gelingt so ein Lehrstück, das nicht im brechtschen Sinne funktioniert, da es keinerlei moralischen Zeigefinger hochhält, sondern rein informativ. So verlässt man Gomorrha gut unterhalten – der Soundtrack zum Beispiel ist hervorragend – und auch ein ganzes Stückchen schlauer.