Sechs Trobadoras auf Aventiure im Buchmarkt
«Buch und Literatur Ost+» zielt auf Vernetzung und die Auseinandersetzung mit bestehenden Texten ab. Eine Gruppe um die Autorin Annette Hug hat Irmtraud Morgners «Trobadora Beatriz» weitergeschrieben – und gleich die ganze Buchproduktion neu gedacht.
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Trobadora Beatriz hat 800 Jahre geschlafen in der Hoffnung, dass im 20. Jahrhundert die mittelalterlichen Herrschaftsverhältnisse überwunden sein werden und sie sich als Frau in ihrem Beruf verwirklichen kann. Ihre Aventiure – eine Heldenreise und Bewährungsprobe im mittelalterlichen Stil – ist eine Fahrt durch Politik, Gesellschaft und Literaturbetrieb, erzählt in einem wilden Textkonvolut und gewürzt mit einem kräftigen Schuss Sarkasmus.
Das Buch von Irmtraud Morgner (1933–1990) erschien 1974 und wurde zum Bestseller. Seither hat es wieder einige Jahre geschlafen. Kann man es jetzt für das 21.Jahrhundert neu lesen? Welches Licht werfen aktuelle Diskurse wie MeToo, Digitalisierung, Migration auf den Text?
Annette Hug wollte diesen Versuch einer Lektüre und Weiterführung zusammen mit fünf anderen Autorinnen wagen: Ivona Brđanović, Nina Fargahi, Johanna Lier, Gianna Molinari und Natascha Wey. «Das Förderprogramm Buch und Literatur Ost+ gab uns die Möglichkeit, die Produktionskette für einmal umzudrehen», sagt Hug. Da war kein Verlag im Hintergrund, der vom Publikationsdatum bis zum Titelbild alles bestimmte. «Das Gruppenprojekt war ganz von den Autorinnen gesteuert. Wir haben uns die passenden Strukturen selbst geschaffen.»
Den kreativen Prozess hat diese Vorgehensweise beflügelt. Aber irgendwann im Lauf des Gesprächs fällt dann auch der Satz: «Ich habe das unterschätzt», der organisatorische Aufwand für die Projektleiterin war hoch.
Montieren mit und ohne Anleitung
Am Anfang des Prozesses stand das Lesen, anschliessend ein zweitägiger Workshop im Alpenhof zum Austauschen und Brainstormen. Wer sich an Morgners Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura. Roman in dreizehn Büchern und sieben Intermezzos heranwagt, sieht sich unmittelbar mit einer ungebärdigen literarischen Form konfrontiert. Das Montageprinzip kommt dem Weiterschreiben entgegen, trobadora. montage heisst denn auch der Band, der daraus entstanden ist.
Buch und Literatur Ost+ hat zwei weitere Projekte gefördert:
Geografie der Freiheit ist ein John-Berger-Projekt des St.Galler Künstlers und Verlegers Josef Felix Müller, an dem fast 20 Personen aus Literatur und Kunst, von Politik bis Theologie mitgearbeitet haben.
Das Buch erscheint im Vexer Verlag. Vernissage: 25. Oktober, 18 Uhr, Raum für Literatur, Hauptpost St.Gallen.
Sag mir, wo die Blumen sind ist eine Recherche zum Verschwinden der Spinnen-Ragwurz der Liechtensteiner Illustratorin Anna Hilti. Die Gruppenausstellung von acht Kunstschaffenden zu Veränderungen in der Natur ist im Landweibels-Huus in Schaan zu sehen.
Aus dem Literarischen, Essayistischen und Journalistischen sticht die Textsorte der Dramatikerin Ivona Brđanović heraus. Sie hat einen East-West-Test verfasst, in dem man Wortreihen weiterführen, unpassende Begriffe aussortieren oder Analogien bilden muss und dabei sehr schnell ins Grübeln über kulturelle und geschlechtliche Identitäten gerät.
Während Brđanović sehr genaue Anleitungen mitliefert, überlässt die Autorin Gianna Molinari den Leserinnen das Knobeln. Sie nimmt in ihrem Beitrag zusätzlich das Element der ungewissen Autorenschaft bei Morgner auf: Sind die Texte von Beatriz oder vielleicht doch von ihrer Spielfrau Laura? Bei Molinari wird daraus eine multiplizierte Protagonistin namens Herta, die in den kurzen Textpassagen in immer wieder anderer Gestalt auftritt. Die Fragmente kann sich die Leserin selber zu einer oder mehreren Geschichten zusammenmontieren, schlüssig wird es nicht, sinnig aber sehr wohl. Wer bin ich? Und wie bin ich geworden?
Feminismus revisited
Mit diesem Blick auf fragmentierte weibliche Biografien ist Molinari auch nah an einem zentralen Thema von Irmtraud Morgner. Durch die Figur der Trobadora, die als Frau im Mittelalter kein Auskommen in ihrem Beruf findet, weil kein Mann sich besingen lassen will, macht Morgner die Geschlechterfrage zu ihrem Ausgangspunkt.
In der angeblich egalitären Gesellschaft der DDR hat sich der Feminismus nicht etwa erübrigt, er ist nur politischer geworden. Und mit dem Frauenstreik ist die Debatte soeben erneut aufgeflammt. Die Gewerkschaftssekretärin Natascha Wey erzählt in ihrem Text den Auftritt einer Rednerin auf einem Kongress, dekliniert mögliche und unmögliche Rollenbilder durch und muss schliesslich ein kleines Wunder imaginieren, damit die Frau Gehör findet.
Buch und Literatur Ost+ ist im Frühling 2019 zum zweiten Mal ausgeschrieben worden. Gemäss der Geschäftsführerin Mireille Loher vom Amt für Kultur St.Gallen sind 15 Bewerbungen eingegangen. Vier davon wurden zur Weiterbearbeitung ausgewählt und konnten sich in einer zweiten Runde am 16. September vorstellen. Danach soll abschliessend über die Projekte entschieden werden, die zur Umsetzung unterstützt werden.
Einer der stärksten und assoziationsreichsten Beiträge des Bands ist die Skizze Sugar & Ella von Johanna Lier, die das fahrende Leben der Trobadora in die Migrationsthematik übersetzt. Der Text handelt von Sugar Lovelace, geboren 1834 am Tag der Abschaffung der Sklaverei und Ururururgrossmutter der Pornodarstellerin Linda Lovelace. Sugar landet im 21.Jahrhundert und muss sich mit Haut und Haar einem ausbeuterischen Traffiker ausliefern, um von einem Auffanglager auf der Insel hinüber in die Mainlands zu gelangen.
«Literatur ist ein Low-Budget-Geschäft»
Die Journalistin Nina Fargahi rückt mit ihrer Recherche zur Publikationsgeschichte der Trobadora die Produktionsbedingungen im Buchmarkt in den Vordergrund. Morgner war den Genossen suspekt, weil sie den Kommunismus verbessern wollte – ihre Bücher erscheinen heute in einem Grosskonzern. Doch die Verlagsszene ist im Umbruch, die Digitalisierung hat das Publizieren vereinfacht.
Das neue Trobadora-Projekt war von Anfang an verlagsunabhängig gedacht, das Lektorat haben die Autorinnen selber organisiert. «Wir haben uns zwar gelegentlich zu zweit über die Texte ausgetauscht, aber wir mussten auch eine Instanz schaffen, die hart Stellung nimmt und das Einhalten von Abmachungen einfordert», sagt Hug. Die Arbeit mit der freien Lektorin Manuela Waeber sei sehr wertvoll gewesen, am Text orientiert und nicht an der Verkäuflichkeit des Produkts.
Annette Hug, 1970, Zürich, Studium von Geschichte und Women and Development Studies in Manila, seit 2015 freie Autorin, Romane: Lady Berta (2008), In Zelenys Zimmer (2010) und Wilhelm Tell in Manila (2016, ausgezeichnet mit einem Schweizer Literaturpreis).
Liebster Lese-Ort: Speisewagen.
Erschienen ist trobadora.montage schliesslich in der Reihe «essais agités», die von «alit – Verein Literaturstiftung» herausgegeben wird. Die Bücher werden mit einer offenen Schreibsoftware produziert und in variablen Formaten publiziert, unter anderem als Chapbook on Demand. Der Vorteil ist, dass man kostengünstig und ohne Abhängigkeit von einem Konzern veröffentlichen kann. Der Nachteil aber, dass das Buch online direkt beim Verlag bestellt werden muss und die meisten Buchhandlungen diesen Weg nicht gehen.
«Literatur ist ein Low-Budget-Geschäft», sagt Annette Hug, und sie sieht das als Stärke und Schwäche: «Man kann mit wenig Geld viel machen. Aber es fehlt in der gesamten Produktionskette an Geld.» In der Schweiz funktionierten die Verteilzentren gut, aber in Deutschland seien sie in der Krise, ein grosser Verteiler habe dort die Kleinverlage aus dem Angebot gestrichen. «Das ist sehr bedrohlich. Unser Projekt hat mir bewusst gemacht, dass wir diese Kanäle stärken und nicht umgehen müssen.»
Ein Akt der Selbstermächtigung
Lesen, Schreiben, Publizieren – am Ende des Prozesses steht: Auftreten. Das war im Projekt von Anfang an mitgedacht. Annette Hug thematisiert die Problematik in ihrem Essay Trobadora Beatriz will kein Don Quixote sein, im vorliegenden Band ausgehend von einem Writers Festival in Südkorea. Mehrsprachige Übertitel und Begleitmusik konkurrenzierten die Lesungen, einige Gedichte wurden sogar vertont, es klang nach «Seoul sucht den Superstar».
Hug sagt dazu: Als Autorin müsse man dankbar sein für Einladungen, andererseits fühle sie sich gelegentlich sehr fremdbestimmt. «Ich werde von der Moderation inszeniert. Sie setzt die Themen, ich kann nur mitspielen. Dabei darf ich als Frau nicht anmassend überlegen auftreten und will doch auch mehr als gefällig sein.»
Selbstermächtigung lautete auch hier das Stichwort. Die sechs Frauen haben mit der Dramaturgin Monika Gysel an ihrem Auftritt gearbeitet: Wie können wir den Raum bespielen? Wie beginnen wir ohne die obligate Begrüssung? Wie verteilen und wie wechseln wir die Rollen?
Trobadora.montage, Buchpräsentationen: 15. Oktober, 20 Uhr, Schlösslekeller Vaduz und 17. Oktober, 20.15 Uhr, Palace St.Gallen.
Trobadora.montage ist erhältlich über essaisagites.ch.
Das Ziel war keine glatte Show, sondern ein selbst gestaltetes, in sich geschlossenes Programm, das die Texte zur Geltung bringt. Die Resonanz ist recht gut, die Trobadora-Frauen haben in wechselnder Besetzung an diversen Orten auftreten können. «Programm» statt «Lesung» war natürlich ein Verkaufsargument, räumt Annette Hug ein, «und dank der Fördergelder konnten wir einen Vorbereitungsaufwand betreiben, der sonst nicht drinliegt». Demnächst ist der Kredit aufgebraucht, die Auftritte werden für die Veranstalter teurer – und damit wohl seltener, denn auch auf dieser Seite sind die Mittel knapp.
Lesungen sind eine wichtige Einnahmequelle für Autorinnen und Autoren. Ausserdem zeige der Erfolg von Literaturhäusern, dass das Publikum es schätze, wenn ein Abend lang über ein Buch geredet werde: «Es gilt, der Form Sorge zu tragen», sagt Hug. «Wir müssen sie nicht neu erfinden, aber wir können das Repertoire erweitern.» Gerade in dieser Hinsicht sei das Trobadora-Projekt für sie eine Weiterbildung gewesen, die nachwirken werde.
Einen starken Text feiern
Und sonst, was bleibt? «Die Erfahrung, wie der Betrieb funktioniert, wenn man einmal alles anders macht als immer.» Normalerweise haben vom Grafiker über die Druckerei bis zum Veranstaltungsraum alle ihre fixen Preise; die Autoren erhalten vom Verkaufspreis, wenn alles gut läuft, magere 10 Prozent. Das war in diesem Projekt anders: Writers first. Aber wenn keine Strukturen da sind, muss man sie selber schaffen – sowohl innerhalb der Gruppe als auch im Kontakt nach aussen.
Eine Befriedigung und eine Herausforderung zugleich: «Die Organisation der Veranstaltungen war so aufwendig, dass ich die Arbeit an meinem Roman zurückstellen musste», sagt Annette Hug. Sie begrüsst, dass man sich in der zweiten Runde von Buch und Literatur Ost+ als Gruppe bewerben kann, das schaffe eine andere Ausgangslage.
Wichtig findet sie ausserdem, dass bei dem Förderprogramm das Lesen einen so hohen Stellenwert bekommt. «Wir konnten einen Text hervorholen und ihn feiern, einfach weil wir ihn wichtig finden und weil er immer noch etwas zu sagen hat. Das ist das Gegenmodell zu Jubiläen, die immer wieder dieselben Dichter abfeiern.»
Hug sieht darin durchaus auch einen konstruktiven Beitrag zur Diskussion um den literarischen Kanon und dessen ungerechtfertigt niedrigen Frauenanteil, wie er jüngst wieder mit der Studie «Frauen zählen» aufs Tapet gebracht worden ist. Und last but not least seien die intensiven Diskussionen über Literatur und Genres, über das Schreiben und Veröffentlichen fruchtbar gewesen. Lesen und Vernetzen stärke einen wichtigen Gedanken: «Literatur war schon immer mit Literatur im Gespräch.»
Dieser Beitrag erschien im Oktoberheft von Saiten.