Schweben, drehen, hangeln
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Gut zu wissen, dass der Mann Erfahrung im Klettern hat: Vor Beginn des Stücks hangelt sich Tobias Spori in schwindelnde Höhen hoch, gesichert natürlich – und schwingt dann am Seil durch die Kletterhalle, dass dem Publikum der Atem stockt. Die «Landung» gelingt perfekt, und vorerst geht es im Stück dann bodennah und lebensnah weiter: Vier Menschen rangeln um ihren Platz in der Gruppe, alle wollen vorne sein, schubsen und ellenbögeln. Kapitelüberschrift: «Das ganz normale Leben».
Was das Quartett um Tobias Spori (mit ihm tanzen Francesco Barba, Hella Immler und Claudia Voigt) unter dem Titel Moderne Pilger entwickelt hat, ist über weite Strecken zumindest kein «ganz normaler Tanz»: Vier Bungeeseile mit Ringen hängen von der Decke, an ihnen schwingen sich die vier in immer neuen Varianten kreuz und quer durch die Halle und schlagen der Schwerkraft ein Schnippchen. Aus der Fläche geht der Tanz in die Höhe, aus Hüpfern werden Riesensätze, aus Sprüngen Flugversuche, aus dem Liegen ein Schweben.
Das ist kraftvoll, lustvoll und verspielt – und zugleich bewundernswert minutiös eingeübt, damit die Seile keine unkontrollierte Eigendynamik entwickeln. Das Tanzrepertoire erweitert sich; zuvorderst in athletischer Hinsicht, dazwischen aber auch emotional, wenn sich beim Liebesduett Hella Immler scheinbar schwerelos um ihren Partner windet und ihm immer wieder entschwebt. Der Pas de deux als Vol de deux: Das nähert den Tanz dem Zirkus an (und erinnert momentweise auch an Eiskunstlauf).
Das Stück ist spürbar aus dem Experimentieren entwickelt worden. Was passiert mit dem Körper, wenn er in die Höhe schnellt? Bis wohin lässt mich das Seil fliegen, bevor es mich auf den Boden der Realität zurückholt? Wie funktioniert der Mensch als Kopfunter-Wesen oder Hängetier hoch oben in der Steilwand?
Gegenüber diesen körperlichen Exerzitien tritt das im Programmheft betonte Thema der Orientierungslosigkeit und Sinnsuche, das «Anything Goes» der entgrenzten heutigen Gesellschaft, in den Hintergrund. Den zeitdiagnostischen Überbau hätte es nicht gebraucht: Was das Publikum zu sehen bekommt, ist als tänzerisch-sportliche Etüde interessant genug – und hätte etwas packendere Musik als die gewählten psychedelischen Höhlenklänge verdient.
Mit Moderne Pilger präsentiert sich eine neue freie Ostschweizer Tanzkompanie, hervorgegangen aus dem Ensemble des Theaters: das Panorama Dance Theater von Tobias Spori und Ann Katrin Cooper. Es macht sich zur Aufgabe, «zeitgenössischen Tanz mit anderen Disziplinen» zu verbinden. Mit der Kletterhalle im Winkler Industriegebiet hat es einen neuen Spielort für den Tanz erobert und das zahlreiche Premierenpublikum begeistert.
Weitere Aufführungen:
Sonntag, 15. und Freitag, 27. März, 20 Uhr, Kletterzentrum, Edisonstrasse 9, St.Gallen.
Weitere Infos: panoramadancetheater.com
Bilder: Oliver Ruess