Im ersten Bild wanken die Jammergestalten der Männer zurück aus dem Krieg. Am Ende der Oper ist noch immer Krieg – den «Vittoria»-Schlusschor lässt die St.Galler Regie weg. Aber zwischendrin, im Finale des dritten Akts hofft man mit dem Volk von Schottland auf eine Wende. Es hat die Verbrechen seines Königs Macbeth satt. Angestachelt vom Kontrahenten Macduff, sieht man erst Lady Malcolm, dann mehrere Frauen, schliesslich den ganzen Chor die Fäuste in den Himmel recken. Im scharfen Gegenlicht sind sie als Silhouetten überdeutlich.
Dann werden aus Fäusten salutierende Soldatenhände. Hinten winken die Frauen zu einem Abschied, der einmal mehr ins Elend führen wird. Gewalt ruft nach Gewalt, Krieg bleibt Krieg, und die Zeche zahlt das Volk: Das zeigt dieses Spiel mit den Händen, plakativ, aber eindringlich.
Regisseur Krystian Lada setzt in seinem St.Galler Macbeth mehrfach solche symbolischen Hand-Zeichen. Sie sind stärker, als es vordergründige Aktualisierungen wären. Die Aktualität brennt sowieso in diesem Stück um Macht, Männergewalt, um Väter und Söhne im mörderischen Kampf um die Herrschaft.
Lauter Verlierer
Ironisch, dass die Könige, die vor Macbeths blutigem inneren Auge vorbeiziehen, hier drei Bodybuilder sind. Ihrem muskulös überzeichneten Männlichkeitsbild steht als vierter «König» Mohammad Al Haji gegenüber. Der Tänzer, der im syrischen Bürgerkrieg ein Bein verloren hat, wirbelt mit seiner Prothese über die Bühne als Macbeths Alter Ego. Havariert, aber unbesiegbar: Dass das möglich ist, erzählt Al Hajis persönliche Tanzbiografie und Fluchtgeschichte.
In Verdis Macbeth hingegen gibt es nur Verlierer. Allen voran das Volk, vom Komponisten mit opulenten Chören ausgestattet und von den St.Galler Theaterchören leidenschaftlich und stimmkräftig verkörpert. In einer der emotionalsten Szenen der Oper trauert der Chor um die ermordeten Kinder in einem berückenden Lacrimoso – bevor er sich zur kurzlebigen Revolte berappelt.
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Opfer ihrer Machtverblendung sind aber auch die Herrschenden, Macbeth, Macduff, Malcolm, Banco und wie sie alle heissen. Vincenzo Neri brilliert als Macbeth mit einer Stimme, die Glamour, Mordwahn und Zerrissenheit gleichermassen in sich trägt. In den weiteren Solorollen sind Brent Michael Smith, Brian Michael Moore und Sungjune Park zu hören, ausserdem Mack Wolz als Lady Malcolm und David Maze als stummer tanzender König Duncan. Kio Bruderer singt bravourös trotz Armbruch den kleinen Fleancio.
Die Fäden zieht, schon bei Shakespeare, erst recht bei Verdi, Lady Macbeth. Libby Sokolowski verfügt über die Stimmgewalt, die Brillanz in den Spitzentönen und die schauspielerische Raffinesse für eine der düstersten Frauenrollen des romantischen Repertoires. Ihre Schlafwandelarie ist das ausdrucksstarke Psychogramm einer Zerrüttung – und das Porträt einer Frau, die ihrerseits Täterin wie Opfer des Systems ist.
Grelles Licht am Tatort
Spätestens in dieser Szene spürt das Publikum: Die Beifallsbekundungen nach jeder Bravour-Arie der Lady und ihres wankelmütigen Gatten, so berechtigt sie sind, stören. Die unverbesserlichen «Brava»-Rufer aus den oberen Rängen unterbrechen das Drama auf der Bühne und bremsen das Mitgehen mit den Emotionen aus.
Oper halt, Schaulaufen der grossen Stimmen, ein Hauch von Scala di Milano? Verdis Macbeth, 1847 an der Grenzscheide von Belcanto-Oper und psychologischem Drama komponiert, will genau das nicht mehr, und die St.Galler Inszenierung von Krystian Lada will es auf keinen Fall. Ihr Schauplatz ist eine beinah kahle Bühne, mittendrin anfangs ein Podest, später nackte Erde, dahinter ein Halbrund, begrenzt von einem Streifenvorhang, wie man ihn an Stalltüren oder Schlachthöfen findet. Grelles Licht fällt von hinten auf den Tatort, ein leuchtender Ring markiert ihn mal gelb als zeremoniellen Raum, mal rot als Richtplatz, später wird er blauumrandet zum Hexenkessel.
Der markanten, auch etwas simplen Bildsprache (Bühne Krystian Lada, Kostüme Adrian Bärwinkel, Licht Aleksandr Prowalinski) steht Verdis vielschichtige Partitur gegenüber, die das St.Galler Sinfonieorchester unter Carlo Goldstein funkelnd zum Leben erweckt, in allen Facetten zwischen Kriegsgedröhn, hexischen Beschwörungsriten, Wutausbrüchen und verinnerlichtem Pianissimo-Schmerz.
Der Mann mit dem Dolch
Die «pensieri di sangue», Blutgedanken, die Macbeth gleich in der ersten Szene heimsuchen – sind sie Schicksal, unausweichlich, Menschennatur? Oder sind die Hexen schuld, deren Prophezeiungen die ganze Story vorantreiben? Die St.Galler Inszenierung lässt Deutungen offen. Viel Gewicht und Raum gibt sie den freakigen Hexen und ihren Chören, auch in dem (für die spätere Pariser Fassung komponierten) Ballett, das die Regie raffiniert zu Macbeths Innenschau nutzt. Beim Showdown im Wald von Birnam treten die Soldaten als wüeschti Silvesterchläuse mit Jedi-Schwertern auf – ein eher kruder Clash of Cultures.
Aber im Kern ist es dieser Inszenierung nicht um Hexenspuk zu Mute. Immer mitten drin oder im Scheinwerferkegel am Rand der Bühne steht der Leibhaftige. Jonas Jud, im langen Mantel, schwarzem Haar und tiefschwarzem Bass, wetzt lächelnd den Dolch, lässt ihn in die Hände der Lady gleiten, mordet für Macbeth, streut Erde auf die Kindergräber. Er sorgt dafür, dass das Sterben kein Ende nimmt. Der Krieg ist sein Geschäft, der Tod seine Rendite.
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Man schaudert mit dieser Figur, sieht die Kriege in der Ukraine, in Gaza, im Kongo vor sich, den Wahnsinn der Mächtigen, die gerade daran sind, das Recht des Stärkeren und Schamloseren zu ihrem Gesetz zu erheben. Im aufbrausenden Blech des Orchesters, in den Worten der Lady – «Voll von Verbrechen ist der Weg zur Macht» – oder in den Klagen des Volks über die «Schurkenherrschaft» im Land: In all dem klingt unausgesprochen, aber unüberhörbar das Waffengeklirr der Gegenwart mit. Standing Ovation.
Giuseppe Verdi: Macbeth. Nächste Vorstellungen: 10., 23. Februar, 6. März, Theater St.Gallen