Schmerzlicher Familien-Untergrund
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Im Brief vom 1. Juni 1942 steht noch kein Wort von der drohenden Deportation. Es ist im Gegenteil einer der wenigen optimistischen Briefe. Der Grund: Enkelin Trude, die Empfängerin der Briefe, hatte zuvor mitgeteilt, endlich ihren «Mann fürs Leben» gefunden zu haben. Die Grosseltern Ike und Fanny Morgenthal sind erleichtert. «Deinen Bräutigam, den wir als uns. Sohn betrachten, heissen wir herzl. willkommen», schreibt Ike und fragt dann gleich nach näheren Angaben zum Bräutigam und zum Studium der Tochter: «Gib uns über alles dieses genauen Bescheid.»
Es folgten noch neun weitere Briefe, Absendeort: das ehemalige jüdische Viertel in der Ortschaft Haigerloch, zwischen Stuttgart und Konstanz gelegen. Hierher, in die verlassenen Häuser der zuvor bereits deportierten jüdischen Familien, waren Ike und Fanny Morgenroth im Frühling 1942 umgesiedelt worden – von hier wurden sie am 19. August nach Theresienstadt abtransportiert.
Im letzten Brief teilt Ike der Tochter mit: «Dieses Mal kann ich Dir nicht sehr Gutes berichten, wir kommen Mittwoch 19. Aug. nach Theresienstadt (Böhmen) wenn es möglich ist werde ich Dir noch die genaue Adr. angeben. Ich hoffe, Du regst Dich deswegen nicht auf, es soll dort sehr gut sein.» Die Adresse erhielt die Tochter nie. Fanny starb kurz nach der Ankunft in Theresienstadt, Ike wurde später in Treblinka ermordet.
Sibylle Elam: Es soll dort sehr gut sein. Eine Familiengeschichte von Flucht, Vertreibung und Ankunft, Rotpunktverlag Zürich 2017, Fr. 34.-
Ob Ike Morgenthal, damals bereits 76-jährig, selber an seinen Satz, der dem Buch den Titel gab, geglaubt hat und an die Nazi-Propaganda, Theresienstadt sei ein Aufenthaltsort für alte und prominente Juden? Enkelin und Buchautorin Sibylle Elam bezweifelt es. Er ist aber typisch für die Tonalität des gesamten, ausführlich zitierten Briefverkehrs: Über ihre eigene lebensgefährliche Lage liest man in den Briefen der Grosseltern höchstens Andeutungen.
«Wann hört das Faulenzen auf?»
1936 war Trude Waldo knapp 20-jährig als Gesangsstudentin nach Zürich gekommen. Aufgewachsen war sie bei den Grosseltern Morgenthal, die in Heilbronn ein Schuhgeschäft betrieben; ihre Mutter Selma war acht Tage nach ihrer Geburt an Kindbettfieber gestorben. Die Grosseltern gehörten zum süddeutschen Landjudentum, dessen Geschichte das Buch in knappen Zügen nachzeichnet. Ab 1933 studiert Trude in Stuttgart Gesang, 1936 kommt das Verbot für jüdische Studentinnen, und sie findet Aufnahme an der privaten Accademia di Canto in Zürich. In der ersten Zeit besucht sie die Grossmutter dort, später wird ihr das Reisen untersagt, und 1937 setzen die Briefe von Fanny und Ike Morgenthal ein.
Ihr Tenor ist die stetige Sorge um die unsichere Lebenssituation und die stockende Musikerinnen-Karriere ihrer Enkelin – und ihre «Schreibfaulheit», die fast Brief für Brief mit scharfen Worten bemängelt wird. Auch sonst gibt es Vorhaltungen aller Art, den Lebenswandel, das Studium und alles möglich betreffend. Tonalität: «Wann geht bei Dir die Arbeit wieder an? D.h. wann hört das Faulenzen auf?»
Buchpräsentation mit Sibylle Elam und Michael Guggenheimer: 16. November, 20 Uhr, Buchhandlung Comedia St.Gallen
Zwischendurch erfährt man, dass die Grosseltern ein Visum für die USA beantragt haben, aber mit wenig Aussicht auf Erfolg. Ab Ende September 1939 tragen die Briefcouverts den Zensurstreifen der Nazibehörden: möglicherweise ein entscheidender Grund dafür, dass die Grosseltern über ihre wirkliche Lage nur sehr spärlich informieren. Umgekehrt verheimlicht auch Trude manches – sogar die Tatsache, dass sie 1941 ein uneheliches Kind, Klaus, zur Welt bringt.
Schreckliche Lager-Biographien
Über die unterschwellig konfliktreiche familiäre Beziehung hinaus zeichnet das Buch die Situation der Juden nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz nach. Und neben den Grosseltern verfolgt die Autorin auch die Spur weiterer Familienmitglieder, darunter Trudes Vater Arthur, der aus Prag nach Theresienstadt und schliesslich nach Riga deportiert wird.
Parallel dazu erzählt sie die Geschichte ihres Vaters Alex Klumak. Dessen Familie war 1938 aus Österreich geflüchtet; Alex gelangte nach Zürich, sein Bruder Edy fand vorerst in Belgien Aufnahme, wurde nach der deutschen Besetzung Belgiens ins Internierungslager Gurs in Südfrankreich deportiert, von wo ihm die Flucht zurück nach Belgien gelang. 1944 wurde er mit anderen Familienmitgliedern verhaftet und nach Auschwitz verfrachtet – gestorben ist er bei Kriegsende im Lager Buchenwald. Alex’ Schwester Selma und Mutter Reisel überlebten den Krieg in Zürich.
Den letzten Teil des Buchs bildet die Nachkriegsgeschichte: Trude samt ihrem Sohn Klaus und ihr Mann Alex versuchen als Emigranten in Zürich Tritt zu fassen, 1947 wird die Tochter Sibylle geboren, zugleich verstärken die Behörden den Druck auf die Flüchtlinge, ihre «Weiterwanderung» voranzutreiben. Erst mit der Liberalisierung der eidgenössischen «Flüchtlingspraxis» 1950 lässt der Druck nach, und Zürich wird zum gesicherten Lebensmittelpunkt der Familie.
Eine wichtige Motivation, ihre Geschichte zu recherchieren, sei es gewesen, die Ereignisse für die Kinder und deren Nachkommen festzuhalten. «Und je länger ich dran arbeitete, desto mehr merkte ich, wie wichtig es war, etwas auszuleuchten, das immer im Hintergrund meines Lebens gestanden hatte, das viele seltsame Stimmungen innerhalb der Familie erklärte und das mir vielleicht auch das Gefühl gab, mich in meinem Leben nie ganz auf festem, sicherem Boden zu bewegen», ergänzt die Autorin. Die schmerzliche Vergangenheit «war der Untergrund, auf dem unsere Familie gebaut war».