, 13. Januar 2023
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Schluss mit der «ständigen Raumsuche»?

Nächsten Dienstag wird im Kulturraum Pool über ein St.Galler Haus für die freie Szene diskutiert. Einmal mehr – das Thema ist seit rund drei Jahrzehnten akut. Jetzt könnte es aber konkret werden, laut Ankündigung «zwischen Lok und Umbau». Ein Rück- und Ausblick.

Das Theaterprovisorium namens Umbau vor der St.Galler Tonhalle heute. (Bild: Su.)

Aufräumen ist mühsam, aber kann sich lohnen. Beim Archiv-Sichten, in einer dicken Mappe mit dem Stichwort «Räume», eingereiht neben anderen Themen in der Abteilung «St.Galler Kulturpolitik», sind mir altbekannte Sätze begegnet. Zum Beispiel diese: «Die freie Szene ist in verschiedenen temporär begrenzten Räumen untergebracht. Die Auftrittsorte für den freien Tanz und das Theater sind unbefriedigend. Die ständige Raumsuche verbraucht Energie.»

Die Sätze könnten aus dem Jahr 2023 stammen – sie finden sich aber, zwanzig Jahre früher, im Konzept für das damals so genannte T-Haus. «T» stand für Tanz, Theater, Text und Ton. Das Haus sollte Räume für die performativen Künste bieten, für Aufführungen ebenso wie zum Proben. Das erhoffte Haus war umfassend gedacht, als «Ort der gesellschaftlichen Auseinandersetzung in und für St.Gallen».

Die kämpferischen 80er-Jahre

Neu war die Idee schon damals nicht. Seit Jahren arbeitete namentlich die Choreografin Gisa Frank auf die Gründung einer IG Tanz (die dann im Jahr 2000 stattfand) und auf bessere Aufführungs- und Probenbedingungen für Tanz- und Theaterschaffende hin. Das T-Haus sollte als «Zentrum für zeitgenössische Kultur, Festivalhaus, Produktions- und Arbeitsstätte mit überregionaler Ausstrahlung» die Lösung sein.

Der Kampf der freischaffenden Künstler:innen aller Sparten um Anerkennung, Geld und Raum führt aber weiter zurück, bis in die 1980er-Jahre. Dazu gibt es ein anderes Mäppchen im Archiv, betitelt «IG Kohle». Deren Antrieb war das Missverhältnis zwischen hochsubventionierten etablierten Institutionen, allen voran Stadttheater und Tonhalle, und der damals so genannten «Alternativkultur».

1984 konnte die Aktionshalle Graben, die heutige Grabenhalle errungen und in einem Probebetrieb eröffnet werden, ein erster Durchbruch in Sachen Raum, aber noch nicht in Sachen Geld. Die im gleichen Jahr gegründete IG Kohle forderte in einer Resolution zehn Prozent des Kulturbudgets für aktuelle Kultur sowie Gelder für Werkbeiträge, Ausstellungen, Musikprojekte usw. – staatliche Kulturförderung also, wie sie heute längst selbstverständlich ist.

Die Illusion: gemeinsam genutzte Räume

Die Politik reagierte auf die Raumfrage mit Angeboten, Räume zu teilen. So sollte die Tonhalle nach der Renovation zum «Mehrzweckpalais» für das Orchester, aber auch für diverse freie Nutzer:innen werden. Und die Reithalle war nach dem Umbau ebenfalls sowohl für Reitzwecke als auch für Konzerte gedacht.

An beidem zweifelte die IG Kohle schon vor den Umbauten, wie es in einem Communiqué vom November 1989 hiess: Die politische Mehrheit für die Ton- und die Reithallen-Renovation wirke «eher als ein Akt der Bewältigung» – «bewältigt werden sollten damit die Ängste, die noch allzu frisch vom Anfang dieses Jahrzehnts verbleiben, als die städtische Jugend in den Schweizer Städten die Kulturfrage anders aufzufassen wagte».

Statt einen von ihr so genannten «billigen Frieden» gutzuheissen, beharrte die IG Kohle damals auf einer «Um- und Neuverteilung städtischer Kulturgelder». Tatsächlich klappte die versprochene Öffnung weder bei der Tonhalle (Neueröffnung 1993) noch bei der Reithalle (1992) – ebenso wenig wie zwei Jahrzehnte später bei der Lokremise. Auch hier hoffte die freie Szene nach dem Umbau auf Raum und Zeit im neuen kulturellen «Leuchtturm» der Stadt, auch hier blieben die Hoffnungen weitgehend unerfüllt.

Die Debatte

«Zwischen Lok und Umbau – (k)ein Haus für die freie Szene»: Rede von Stadtpräsidentin Maria Pappa, Podium mit Jan Henric Bogen, Ann Katrin Cooper, Peter Olibet, Martin Sailer und Rebecca C. Schnyder

Di 17. Januar, 19 Uhr, POOL, Dürrenmattstr. 24, St.Gallen

Nebenbei: Auch das Palace trat 2004 mit einer ähnlich breit gedachten Nutzung an. Im munteren Konzept für das Palace als «Institut für östliche Angelegenheiten», erstellt von den ehemaligen «Frohegg»-Initianten um Philipp Bachmann, Etrit Hasler, Manuel Stahlberger und Kaspar Surber, sollten ausdrücklich alle Sparten gepflegt werden, von Jazz, Rock, Diskussionen oder Tanz bis zu «russischen Romanautoren, tschechischen Theatertruppen und Blechmusik vom Balkan» – sofern sie «für Osterweiterungen, Debatten oder rauschende Feste sorgen». Auch hier blieb das Spektrum nach der Eröffnung der Hütte bekanntlich enger.

Zurück zu 2002: Damals schien ein Haus für die «Freien» erstmals in greifbare Nähe zu rücken. Grund war das Mummenschanz-Haus, das die in St.Gallen domizilierte Pantomimentruppe an der Expo 02 in Biel bespielt und anschliessend der Stadt als Geschenk angeboten hatte.

Der Stadtrat schlug vor, es auf der Wiese vor dem Volksbad aufzustellen. Die freie Szene, inklusive die T-Haus-Initiant:innen, waren jedoch uneins wegen der Grösse des Hauses: Ein Aufführungssaal mit gegen 500 Plätzen kam den Bedürfnissen der Freien nur zum Teil entgegen.

Mummenschanz- und T-Haus in einer Visualisierung zur Abstimmung 2002. (Bild: Archiv)

Dennoch wurde ein Verein gegründet, das Gebäude virtuell architektonisch erweitert um Probe- und Atelierräume (Bild oben), der Betriebsaufwand geschätzt (auf jährlich rund 350’000 Franken). Doch in der Volksabstimmung fiel das Projekt durch.

Ähnlich wie damals ist die Frage, ob das heutige Provisorium vor der Tonhalle mit seinem grossen Volumen für die freie Szene und ihre kleinmasstäblicheren Produktionen überhaupt passt, einer der umstrittenen Punkte mit Blick auf eine Umnutzung des Holzbaus.

Heimatlos: Theater, Tanz, Literatur und Jazz

Im Rückblick auf dreissig Jahre städtischer Kulturpolitik könnte ein Fazit lauten: Für Rock- und Clubkultur, für das unabhängige Kino, für Klassik und institutionelles Theater sowie für die bildenden Künste ist in der Stadt ausreichend und dauerhaft Raum geschaffen worden. Im Gegensatz dazu müssen sich das freie Tanz- und Theaterschaffen, der Jazz und die Literatur mit Provisorien zufrieden geben.

Sie alle sind an wechselnden Orten oder Zwischennutzungen nomadisch unterwegs, nisten sich mal hier und mal dort ein wie die Jazzreihe Gambrinus oder das Literaturhaus Wyborada, bauen Zelte wie die Cie.Buffpapier oder der Cirque de Loin, bespielen theaterfremde Räume wie das Panorama Dance Theater.

Der Eingang zur Lokremise.

Und immer wieder als Stein des Anstosses im Gespräch: die Lokremise, deren dichte Nutzung durch das Theater selber nur wenige Zeitfenster für die freie Tanz-, Theater- und Musikszene offenlässt – bisher.

Schwarz auf weiss im Kulturkonzept

Dass ein Bedürfnis nach Lokalitäten für Auftritte und Proben hiesiger Gruppen, aber ebenso auch für Gastspiele auswärtiger Künstler:innen vorhanden ist, hat sich unter anderem in Zwischennutzungs-Projekten gezeigt – so bei der von Saiten initiierten Bespielung des inzwischen abgebrochenen Kinos Rex, bei den «Geilen Blocks» für die Bildende Kunst oder den zahlreichen Theaterprojekten in der Grabenhalle, jenem Haus, das bis heute am glaubwürdigsten den Anspruch einer «Halle für alle» einlöst, aber auch nicht eigentlich für Theater- und Tanzzwecke ausgelegt ist.

Das unbestrittene Raumbedürfnis fand schliesslich 2020 Eingang ins neue städtische Kulturkonzept. An prominenter Stelle ist dort als Massnahme formuliert: «Ein professionell geführtes Haus bietet Arbeitsräume und Aufführungs-, Ausstellungs- und Koproduktionsräume für die freie Szene. Es funktioniert spartenübergreifend und ermöglicht Gastspiele auswärtiger Gruppen.»

«Testlabor für fixes Haus»

Das «professionell geführte Haus» ist weiterhin bloss Wunsch statt Wirklichkeit. Aber eine Hülle existiert: eben jenes Provisorium namens Umbau, mit dem das Theater St.Gallen die zweieinhalb Jahre der Renovation bis Herbst 2023 überbrückt. Seit 2018 geistert der Vorschlag, dieses Provisorium nach der Wiedereröffnung des Theaterbaus für die Freien weiterzunutzen, durch die Saiten-Seiten und die interessierte Öffentlichkeit, siehe unter anderem die Beiträge hier, hier, hier oder hier.

Den Ball hat im Oktober der St.Galler Stadtparlamentarier und SP-Stadtpartei-Präsident Peter Olibet aufgegriffen: «Der Wunsch nach einem Haus für die freie Szene und das – nach dem Abschluss der Sanierung des Theaters – leerstehende Theaterprovisorium könnte zu einem Glücksfall für die Kulturschaffenden in der Stadt St.Gallen werden», schreibt Olibet in einer Einfachen Anfrage an den Stadtrat.

Er bringt darin die Idee ins Spiel, das Provisorium weitere drei Jahre stehen zu lassen und als «Testlabor» der freien Szene, aber auch migrantischen Vereinen und anderen Interessierten zur Verfügung zu stellen. Olibet will vom Stadtrat unter anderem wissen, was für und was gegen eine solche befristete Nutzung spräche, was sie kosten würde und wer als Trägerschaft in Frage käme.

Auf Antworten am kommenden Dienstag kann man gespannt sein. Für den Anlass hat sich die freie Szene zusammengetan: Die Einladung kommt von IG Kultur und IG Tanz Ost, dem Verband der Theaterschaffenden t.Ostschweiz, dem im Sommer erstmals geplanten Theater-Zirkus-Festival namens Paula sowie POOL, dem Raum für Kultur im Lachenquartier, wo die Diskussion auch stattfindet.

Stadtpräsidentin Maria Pappa begrüsst, danach diskutieren der designierte Theaterdirektor Jan Henric Bogen, die Veranstalterin und IG-Kultur-Präsidentin Ann Katrin Cooper, Rebecca C.Schnyder vom neuen «Interfestival» Paula, der Toggenburger Kantonsrat und Kulturveranstalter Martin Sailer sowie Peter Olibet.

Allerdings müsste ein solches Haus für die Freien nicht zwingend bloss Aufgabe der Stadt sein. In Ausserrhoden gab es jahrelange, am Ende vergebliche Versuche, ein Werkhaus für die performativen Künste aufzubauen, niederschwellig und weniger als Aufführungs- als vielmehr als Arbeitsort gedacht. Im Thurgau gibt es eine lebendige, gut vernetzte freie Theater- und Tanzszene. Ein «Ostschweizer Haus für die Freien» läge da auf der Hand.

3 Kommentare zu Schluss mit der «ständigen Raumsuche»?

  • Marianne Bischofberger sagt:

    Dass dieses Podium ausgerechnet in einem Raum stattfindet, der nicht barrierefrei zugänglich ist, ist im Jahr 2023 eigentlich ein absolutes No-Go, zeigt aber auch, dass Inklusion, Integration etc. immer noch oft blosse „Papiertiger“ sind.

  • Kerstin Forster sagt:

    Das Provisorium ist seit einigen Wochen auf der Website von Blumer Lehmann zum Verkauf angeboten
    https://www.blumer-lehmann.com/produkte-kaufen/spezialangebote/theater-zu-verkaufen.html

  • Hallo Herr Surber, danke für den informativen Artikel. Ich war gestern auf besagter Veranstaltung im Pool und habe mich auch eingebracht. Ich bin Produzent und Technologieberater für Entertainment aus dem Thurgau. In meinem Gespräch mit Frau Cooper und Herrn Olibet kam die Idee auf, eine Liste, einen Katalog für alle nur möglichen kurz/mittelfristigen Räume in St. Gallen und Umfeld zu erstellen und durch die IGKultur zugänglich zu machen, wie es in der Filmbranche mit Locations vermittelt durch Filmkommissionen praktizert wird. Haben Sie in Ihrer Redaktion einmal eine Erhebung gemacht, was es grundsätzlich an Potential/Liegenschaften in St. Gallen gibt? Das würde ich gerne zusammentragen und mit den Kulturinstitutionen und der Stadt diskutieren. Ich finde es allerdings sehr wichtig, eine feste Spielstätte für die Offene Szene zu schaffen. Vielen Dank für Ihr Engagement. Mit freundlichem Gruß Hans Pfleiderer

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