Noch bis Sonntag, 13. April, geht in Nyon die 56. Ausgabe des Dokumentarfilmfestivals Visions du Réel über die Bühne. Anders als in den letzten Jahren gab es dieses Jahr im Programm keinen langen Dokumentarfilm mit direktem Bezug zur Ostschweiz. Aber mit dem Kurzfilm Niederurnen, GL, der im Wettbewerb der mittellangen und kurzen Filme lief, hat die junge Regisseurin Anna Joos in essayistisch-experimenteller Form ein Thema aufgegriffen, das einen geografisch am Rand der Ostschweiz angesiedelten Skandal ins Zentrum rückt: Das Schicksal der Menschen, die in der Eternitfabrik von Niederurnen gearbeitet hatten und schutzlos den gesundheitsschädlichen Asbestfasern ausgesetzt waren, bis Asbest 1990 in der Schweiz verboten wurde.
Bis heute sind viele der damaligen Arbeiter:innen an den Folgen verstorben. Die meisten von ihnen stammten aus Italien und ihre Hinterbliebenen wurden kaum oder gar nicht entschädigt.
Die Familiengeschichte erforscht
Auslöser für ihren Film seien familiäre Verbindungen gewesen, erzählt Anna Joos in Nyon. Die 1991 in Glarus als Tochter eines schweizerisch-schwedischen Paares geborene und in Schweden aufgewachsene Regisseurin hat den Film ihrem Grossvater, Josef Joos, und ihrer Tante väterlicherseits, Sonja Eberle Joos, gewidmet. Das erfährt man am Ende des mit viel Archivmaterial über die Geschichte der Asbest-Euphorie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufwartenden Films.
Die Tante war 2018 mit 63 Jahren an einem malignen Mesotheliom gestorben, einer sich rasch über mehrere innere Organe ausbreitenden Tumorart. Genau daran war Jahrzehnte zuvor auch schon Grossvater Josef Joos verstorben – mit nur 48 Jahren. Hatte es über ihn, den Sohn italienischer Einwanderer, in Anna Joos’ Familie noch geheissen, er habe halt geraucht – wenn auch nur wenig –, so gab es diesen Zusammenhang bei der Tante nicht. Gemeinsam war dagegen beiden, dass sie in der Eternitfabrik in Niederurnen gearbeitet hatten. Und während es beim Grossvater Jahrzehnte waren, hatte die Tante dagegen jeweils nur für ein paar Wochen als Ferienaushilfe dort gejobt. Was umso mehr die Gefährlichkeit dieser Arbeit veranschaulichte und schliesslich auch Anna Joos dazu veranlasste, der Geschichte auf den Grund zu gehen.
Bei ihren Recherchen in Niederurnen stiess sie jedoch auf eine Mauer des Schweigens. Niemand im Ort war bereit, mit ihr über die – nach wie vor existierende – Fabrik zu sprechen und über das hochgiftige Material, mit dem jahrzehntelang hier gearbeitet worden war. So reiste die Regisseurin schliesslich nach Corsano, ein Dorf im Salento. Aus dieser süditalienischen Region waren damals besonders viele Menschen nach Niederurnen emigriert, um dort zu arbeiten. Zur Zeit der Hochkonjunktur der 1960er- und 1970er-Jahre waren es so viele, dass fast die Hälfte der 4000 Bewohner:innen im Glarner Dorf aus italienischen Arbeiter:innen bestand.
Schweizer Recht verhindert Entschädigungen
In Corsano berichten im Film – aus dem Off – einige der heute längst im Rentenalter stehenden Menschen über die damaligen Verhältnisse in der Eternitfabrik. So sei es ihnen etwa verboten worden, bei der Arbeit Masken zu tragen, und der Asbeststaub sei jeweils auch bis in ihre Wohnungen gelangt. Ebenso erfährt man, wie viele Leute mittlerweile an den Spätfolgen verstorben sind. Da die Arbeit dieser Menschen aber Jahrzehnte zurückliegt und nach schweizerischem Recht die Verjährungsfrist von nur zehn Jahren für die Spätfolgen von Arbeiten mit gefährlichen Stoffen viel zu kurz ist, wofür die Schweiz 2014 und 2024 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gerügt wurde, sei fast niemand der Hinterbliebenen oder der neu Erkrankten entschädigt worden, erklärt Anna Joos.
So hat denn auch diese delikate juristische Situation in die eher experimentelle Form des Films hineingespielt, wie die Regisseurin beim Gespräch in Nyon einräumt: «Ich hätte mir durchaus vorstellen können, einen klassisch investigativen längeren Dokumentarfilm zu machen.», Eines ihrer Vorbilder sei der chinesische Dokumentarfilmer Wang Bing. Dieser hat in den letzten 20 Jahren mehrere so investigative wie monumentale Filme über gegenwärtige und vergangene Lebensbedingungen und Ausbeutung von Arbeiter:innen in China realisiert und dafür auch Preise an grossen Festivals wie Venedig, Locarno oder Cannes gewonnen. Für die am Anfang einer vielversprechenden Karriere stehende Anna Joos ist das noch Zukunftsmusik, aber vielleicht gewinnt sie ja am Samstag, in Nyon für Niederurnen, GL den Kurzfilmpreis.