Schlafmützenwettbewerb an der HSG

Der zur Zeit wahrscheinlich wichtigste Intellektuelle der föderalen Republik unterrichtet eine Woche lang an der HSG. Das kommt ziemlich gut, vermuten wir.
Von  Michael Felix Grieder
Gastdozent an der Uni St.Gallen: Lukas Bärfuss (Bild: pd)

Der Dramaturg und Schriftsteller Lukas Bärfuss wird derzeit zu den wichtigsten Intellektuellen des Landes gezählt, und dies nicht zu Unrecht: Es sind die schwierigen Themen des Lebens, die in seinen Stücken und Romanen ohne Scheu, aber doch mit grosser Sensibilität, fragend thematisiert werden. Es sind die existenziellen Widersprüche des Alltags, die Bärfuss aufeinanderprallen lässt, ohne dabei schulmeisterlich zu werden, auf einer Ebene verhandelt, die man, ob man will oder nicht, irgendwie menschlich nennen könnte. Nur ist das nicht verniedlichend gemeint.

Der therapeutische Ansatz: Es ist ungesund, über hässliche Intimitäten nicht zu sprechen

Grosse Wellen schlug sein Essay über den Zustand der Schweiz in der «Frankfurter Allgemeinen», die in seinen Worten als «Volk von Zwergen» beschrieben wird. Bezeichnenderweise echauffierte sich die halbe Cervelat- und Chipolataprominenz über die Zuschreibung «Zwerg» – der wenig inkludierende Begriff «Volk» holt scheinbar niemanden hinter dem Ofen hervor. Der hochgradig primitive Shitstorm war erwartbar, nicht nur wegen Click-Bait und Dynamiken zwischen Trollplatz und den Köpfen der Chefredaktionen.

Was Bärfuss unweigerlich trifft, ist die Mitte des «Identität» genannten, konfliktbehafteten Wirbels, die man so gerne für naturgewachsen nimmt und so ungern psychologisiert sieht. Was von ziemlich allen Kommentaren verkannt wurde, ist die Art der von Bärfuss geübten Kritik: kein blossstellendes Mit-dem-Finger-zeigen, sondern eher ein therapeutischer Ansatz, der besagt, dass es ungesund ist, über hässliche Intimitäten nicht zu sprechen.

Bärfuss gibt sich jedoch nicht als neuer Sartre; er ist kein Universal-Intellektueller, der zu absolut jedem Thema seine Meinung ins mediale Zentrum stellen will, sondern ein sehr spezifischer Denker. Seine Kritik betrifft die Sprache, also sein konkretes Metier, und im Unterschied zu anderen bekannten Theatermachern ist das höchste der Gefühle an Selbstbezugnahmen der eigene Anspruch, zum «vollendeten Schriftsteller» zu werden, was bourdieuanisch gedacht, dem Arbeitsbekenntnis eines perfektionistischen Handwerkers näher steht, als dem Narzissmus der möchtegern-relevanten Bourgeoisie. Oder wie Bärfuss dem Boulevard-Talker Schawinski mit leicht entsetztem Gesichtsausdruck das Wesen der Kritik erklären muss: «Es geiht gar nid um mi!», sondern darum, dass wir, egal wo wir sind, der kritischen Öffentlichkeit Sorge tragen.

Nach der Fasnacht: zurück in den «Schuldturm unseres Seins»

Den öffentlichen Vortrag an der HSG heute Mittwoch hat Bärfuss mit «Schlafmützenwettbewerb – über Konkurrenz und Konformismus» betitelt, einem Motiv, das in anderer Form schon im 2012 in Zürich uraufgeführten Stück zwanzigtausend Seiten thematisiert wird. Darin wird Protagonist Tony, der, nachdem ihm eine Kiste Bücher auf den Kopf gefallen ist, plötzlich den Inhalt des Bergier-Berichts auswendig weiss, von einem Künstleragent dazu gedrängt, sein tragisches Wissen in einer Talentshow mit gelber Plüschelefantenmütze darzubringen.

Die Spektakel-Maschine lenkt auf diese Weise die Aufmerksamkeit weg von der historischen Kooperation der Schweiz mit Hitler-Deutschland, um den gesponsorten Brainforce-Elefanten ins Zentrum zu stellen. Tony aber dissidiert während der Live-Show, indem er sich weigert, blosse Brainforce zu performen und die schrecklichen Geschichten der zurückgeschafften Geflüchteten zu Ende erzählt. Damit fliegt er natürlich aus dem «Rennen».

Zu Beginn des Stücks lässt Bärfuss die Psychiaterin Elena Gosbor eine wunderschöne Kritik an identitären Heimatskonstruktionen vortragen – dem Verweilen in Verantwortlichkeiten, dem Vertrauten, dem «Wegwerfen der Kerkerschlüssel». Sie beschreibt, wie wir nach den paar Tagen Karneval im Winter jeweils meinen, zurück zu müssen in den «Schuldturm unseres Seins und die Zeit absitzen, zu der wir in unserem Ich verurteilt wurden».

Während die Masse trotz offener Käfigtür auf dem Stänglein nahe der knackigen Körner sitzen bleibt, macht sich Vögelchen Tony zu einem Ausflug auf. Somit entpuppt sich die herunterfallende Bücherkiste als «Fahrkarte hinaus auf die offene See der geistigen Möglichkeiten». Zufall: ein Wortspiel mit tiefer Wahrheit.

Dank Neuprogrammierung: wettbewerbsfähig und im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses

Tony, der dem Fernseh-Zirkus in aller Öffentlichkeit die unerträgliche Heuchelei vorwarf, der er sich ausgesetzt sah, wird schlussendlich nicht mit seiner Freundin in die Wälder ziehen und ungestört von Menschheit und Geschichte leben können. Stattdessen wird er von Gosbor im Namen der Wissenschaft mit einer neuen Kiste Bücher beworfen: perfektem Wissen ohne Interpretationsbedarf, da aus puren Fakten bestehend.

Das Experiment beschert Tony Gedächtnisverlust, die Bergier-Geschichten plagen ihn nicht länger. Dank der Neu-Programmierung seines Hirns mit BWL, Marketing, Selbstmanagement, Chinesisch, Goethe und Schiller in ausgewählten Werken (um keine geschichtlichen Zusammenhänge zu verinnerlichen) und einem italienischen Kochkurs läuft Tony so schnell nicht mehr in Gefahr, mit unangenehmem Wissen aufzufallen. Statt auf den Geschichtsbüchern, diesem Monument der Schande, sitzt Tony, nun in mehrerlei Hinsicht vollkommen wettbewerbsfähig, im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses.

Referiert Lukas Bärfuss also heute Abend an der St.Galler Eliteschmiede zu Wettbewerb, Konkurrenz und Konformismus, so könnte das ziemlich interessant werden. Und vielleicht kommt auch irgendwann die Zeit, der Wettbewerbsgesellschaft Bärfuss‘ Schlusswort entgegenzurufen: «fin de la bobine» – die Filmspule ist zu Ende, legt mal ne Neue ein!

 

Lukas Bärfuss spricht heute um 18:15 Uhr im Audimax (B-Gebäude) an der Universität St.Gallen, darüber, was Wettbewerb mit uns Menschen macht.

Das Stück Zwanzigtausend Seiten wurde 2012 im Wallstein Verlag publiziert, gemeinsam mit den Stücken Malaga und Parzival.

Titelbild © Frederic Meyer