Schlachtfeld Familie
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Es beginnt, als wäre Frieden in der Familie. Die Schwester klimpert am Klavier, lang bevor das Stück anfängt, und dann singen Bruder und Schwester abwechselnd das «Abendlied»: «Schmetterling kommt nach Haus, kleiner Bär kommt nach Haus» und so weiter, aber das Lied müsste nicht von Hanns Dieter Hüsch sein, wenn der Frieden nicht schon da brüchig wäre: «Alles schläft und alles wacht, alles weint und alles lacht, alles schweigt und alles spricht, alles weiss man leider nicht.»
Alle kommen nach Haus, denn man trifft sich zum Familienfest, zu Vaters Sechzigstem. Und jetzt sollen es endlich alle wissen, das entsetzliche, bis dahin gehütete Familiengeheimnis: Der Vater, der honorige Helge Klingenfeldt-Hansen, hat seine Zwillingskinder Christian und Linda sexuell missbraucht. Linda hat sich vor kurzem das Leben genommen, Christian sagt es dem Vater ins Gesicht: «Mörder».
Das Fest basiert auf dem gleichnamigen Film von Thomas Vinterberg und Mogens Rukov, der ersten Produktion der dänischen Dogma-Gruppe. 25 Jahre ist das her, aber der Stoff könnte kaum aktueller sein, in Zeiten von #MeToo und jüngst mit den Berichten über mehr als tausend vertuschte Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche. Der Stoff ist zugleich so zeitlos wie das Thema, das dahinter steckt: Macht. Und Angst.
Ringkampf vor Publikum
Text und Inszenierung beschönigen nichts. Die Dialoge fallen wie Faustschläge, der Saal in der Lokremise ist ein Schlachtfeld, das Publikum wie beim Ringkampf rundherum, als einziges Requisit ein Flügel mittendrin, Renommierstück des patriarchalen Bürgertums (Ausstattung: Damian Hitz, Bühne, und Mara Zechendorff, Kostüme).
Alle kommen nach Haus – und gehen aufeinander los. Michael (Fabian Müller), der jüngere, vom Vater ausgeladene Bruder berserkert herum, seine Frau Mette (Nancy Mensah-Offei) keift munter mit. Schwester Helene (Tabea Buser) legt sich mit allen an. Die Mutter (Diana Dengler) versucht zu kitten, was längst zerbrochen ist. Und dann hält Christian (Manuel Herwig) seine vernichtende «Wahrheitsrede».
Aber das Fest geht weiter, Toastmeister Marcus Schäfer propagiert gute Laune, Onkel Bent (Riccardo Botta) singt «Er, der Herrlichste von allen», bis aus Schumanns «Frauenliebe» nur noch der blanke Hohn scheppert. Das Personal im Helge’schen Hotelimperium (Christian Hettkamp, Anja Tobler, Sophie Angehrn) schenkt nach. Polonaise!
An Helge prallt alles ab – Thomas Sarbacher spielt einen labilen Täter, der jeder Konfrontation mit gequältem Lächeln ausweicht. Sein Gegenspieler ist Manuel Herwig, neu im St.Galler Ensemble: ein brodelnder Vulkan, zuckende Mundwinkel im weichen Gesicht, gnadenlose Kontrolliertheit, die unversehens in einen verzweifelten Veitstanz kippen kann. Sein Christian ist das spannende Psychogramm eines gezeichneten, aber nicht gebrochenen Opfers.
Inszeniert am offenen Herzen
Die Verwüstungen, die Helges Verbrechen angerichtet hat, zeigen ihre Narben nicht nur in den einzelnen Figuren. Sie färben ab auf eine Regie, die Brüche aufreisst, Personen und Sätze durch den Raum jagt, im offenen Rund keinen Ort der Behaglichkeit zulässt.
Nina Mattenklotz inszeniert am offenen Herzen, mit scharf kalkuliertem Risiko. Sie geht schmerzhaft nah an die Figuren, auch äusserlich dank der von Sina Wider virtuos geführten Livekamera, die Gesichter in Grossaufnahme heranholt und mit Aussenschauplätzen rund um den Saal das Schlachtfeld erweitert.
Den Originaltext hat die Regisseurin mit Statements ergänzt, die den Familienkrieg ins gesellschaftlich Allgemeine vergrössern. Tabea Buser als Helene stellt die Machtfrage – hätte er sich getraut, in einem nicht-patriarchalen System? Hätte Helge… auch dann, wenn ihm nicht vermeintlich alles gehören würde, bis zu den Körpern und Seelen seiner Kinder?
Und Mette stellt die Angstfrage: Warum verschliessen alle die Augen, wenn einer Zeugnis ablegt? Woher die Angst? Nancy Mensah-Offei, auch sie neu im St.Galler Ensemble, gibt die Antwort: Weil sich nichts ändern darf. Damit alles beim Alten bleibt.
Weitere Vorstellungen vom 19. Oktober bis 3. Dezember, Lokremise St.Gallen
Das St.Galler Fest nimmt mit Leidenschaft Stellung – gegen das Verschweigen und Vertuschen, für die Kinder, für ein «Ethos der Zeugenschaft». Aber bei aller Vehemenz bleiben auch Räume offen, für Fragen, für Reflexion, für die Ursachen des Schweigens. Wie im beklemmenden Geständnis von Elsie, der Mutter: Immer die Frau an seiner Seite, zeitlebens das wohlerzogene Kind, nie zu einem eigenen Weg ermächtigt, hat sie sich damals, als Zeugin des Missbrauchs, ein einziges Mal «für sich selber» entschieden – und gegen ihre Kinder. «Elsie, die könnt ihr jetzt hassen.»
Die entschiedenste Öffnung schafft die Figur der Linda. Finn Nachfolger, ebenfalls neu in St.Gallen, beobachtet, hört zu, tanzt mit, singt und weint mit den anderen. Dieser Linda studiert man nach, ihr, die im Tod – vielleicht – zu sich gefunden hat und der alles nichts mehr anhaben kann.
Den Lebenden hingegen ist nur ein kurzer Moment der scheinbaren Versöhnung gewährt: Erschlagen vom Fest liegen kurz vor Schluss alle am Boden, eine Hand findet einen Arm, Blicke begegnen sich, Helene malt mit rotem Lippenstift Tupfer auf Nase und Wangen.
Dann bricht der Morgen an, Helge ist noch immer der alte Widerling, und nichts wird gut.