, 11. Januar 2015
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Schauprozess mal anders

Der Prozess gegen einen Teilnehmer der «StandortFUCKtor»-Demo vom September 2013 endet genau so überraschend wie er verlaufen ist. Fragen rund um die damaligen Ereignisse bleiben dennoch offen. Tom Combo berichtet aus Winterthur.

Freitag, 9. Januar 2015, Bezirksgebäude Winterthur. Die Polizeipräsenz ist geringer als noch im August, als anlässlich des Prozesses gegen einen Teilnehmer der «Bring Your Noise»-Kundgebung das Areal grossräumig von Polizeikräften überwacht wurde. Etwa sechzig Personen sind dem Aufruf der StandortFUCKtor-Soli-Gruppe gefolgt, der Kundgebung zum Prozess beizuwohnen.

prozess4Vor dem Gerichtsgebäude wird Kaffee getrunken, Solidaritäts-Rap ertönt aus einem Lautsprecher und ein Transparent mit der Aufforderung «der Stadtaufwertung den Prozess machen» wird hochgehalten. Anlass ist die Verhandlung gegen einen mutmasslichen Teilnehmer der StandortFUCKtor-Demo vom 21. September 2013, der gegen den Strafbefehl des Stadtrichteramts Einsprache erhoben hatte.

Juristisches Desinteresse

Bereits Vorfeld zeichnete sich ab, dass es der Gruppe, darunter auch einige aus dem Umfeld des Revolutionären Aufbaus Schweiz, nicht nur um das Ergebnis des Prozesses geht. Am Mittwoch zuvor wurde im Gasthof zum Widder über die Aktion informiert. Dabei stand weniger die Gerichtsverhandlung im Zentrum als vielmehr die Problematik der angestrebten Stadtaufwertung. (Vor einem Jahr publizierten wir dazu ein Online-Interview auf Saiten.ch.)

Darauf angesprochen, sagte der Referent: «Wir erwarten keine gerechten Urteile, deshalb kehren wir den Spiess um und benützen den Prozess, um selbst Anklage zu erheben». Man würde es zwar begrüssen, wenn Leute auf juristischem Weg versuchen würden, gegen die Repressionen im Zusammenhang mit der Demonstration vorzugehen, unternähme aber momentan selber keine Anstrengungen in diese Richtung .

Vor diesem Hintergrund war es auch nicht überraschend, dass der Beschuldigte keine Fragen des Gerichts beantwortete, sondern kurz nach Verhandlungsbeginn aufstand und sagte, dass es hier nicht um ihn gehe sondern um eine Einsprache stellvertretend «für alle von der Repression Betroffenen».

Entgegen den Aufforderungen des Richters, sich an den Prozessablauf zu halten, folgte darauf eine politische Erklärung, die in einer Art Sprechtheater endete, in dem einzelne Personen im Publikum eine Anklageschrift vorlasen, die später auf der Strasse verteilt wurde. Ein Transparent wurde hochgehalten und nach dem Sprechchor «Eusi Stadt, eusi Quartier, weg mit de Yuppies weg mit de Schmier!» verliessen das Publikum und der Angeklagte den Gerichtssaal. Jemand sagte noch: «So das wars, der Prozess ist beendet.»

Unscharfe Bilder

Nach einem kurzem Aufenthalt vor dem Gerichtsgebäude zog der Demonstrationszug durch die Marktgasse zum städtischen Baudepartement, wo ein Plakat mit dem Slogan «Aufwertung ist Verdrängung» an die Mauer geklebt wurde. Bei den Archhöfen (Bild unten), für die Gruppierung eines der wichtigsten Symbole für eine falsche Stadtentwicklung, löste sich der Protestzug schliesslich auf. Begleitet wurde er diesmal nur von Zivilbeamten, die ihn aus der Distanz beobachteten.

prozess3prozess2Der Prozess war indes zu dieser Zeit noch nicht beendet: Im Gerichtssaal präsentierte sich bei der Urteilsverkündung ein umgekehrtes Bild. Statt Aktivisten und Aktivistinnen sass im Zuschauerbereich neben drei Presseleuten lediglich noch eine Handvoll Polizisten. Der Angeklagte, der in Absprache mit seinem Anwalt Marcel Bosonnet bereits ohne diesen zur Verhandlung erschienen ist, blieb der Urteilsverkündung nun selbst auch fern.

Das Urteil, das wegen der Aussageverweigerung des Beschuldigten lediglich aufgrund der Aktenlage gefällt wurde, fiel indes überraschend aus. Das Gericht war zum Schluss gekommen, dass die Video-Aufnahmen, die kurz nach elf Uhr auf der Höhe des Clubs «Coyote Ugly» gemacht worden waren und laut der Anklage den Beschuldigten im Profil zeigten, «nicht sehr scharf, beziehungsweise unscharf» seien und «eine klare Identifizierung nicht möglich» sei. Deshalb bestünden unüberbrückbare Zweifel an der Anwesenheit des Beschuldigten. Dieser wurde freigesprochen, Busse und Verfahrenskosten wurden ihm erlassen und eine Entschädigung für die rechtliche Vertretung zugesprochen.

Verhaltene Reaktion

Jubel löste der Freispruch nicht aus. Anwalt Bosonnet zeigte sich zwar auf Anfrage zufrieden und sagte, dass nun auch gleichgeartete Strafbefehle revidiert werden müssten. Dies gilt allerdings nur für Fälle, die genau gleich liegen – und dies tut kaum einer. Die meisten Strafbefehle wurden an Teilnehmer ausgestellt, die nach der Demo festgenommen wurden, deren Teilnahme also belegt ist. Die StandortFUCKtor-Soli-Gruppe wiederum bezeichnete das Urteil in einem Communiqué als Farce, mit dem die Justiz versuche, «sich als neutrale, unvoreingenommene Instanz darzustellen».

Nun ist zwar weder am Verfahren noch am Urteil juristisch etwas auszusetzen, das heisst jedoch nicht, dass die zahlreichen Fragen rund um die Tanzdemo nun geklärt wären. Die Position des Stadtrates, dass angesichts der Gewaltbereitschaft der Demo-Teilnehmer die Reaktion der Polizeikräfte gerechtfertigt gewesen sei, bleibt unverändert. Deutlich macht dies seine Antwort auf eine schriftliche Anfrage des Gemeinderates Christoph Baumann (SP) zu den Ereignissen rund um die Tanzdemo.

Verhärtete Positionen

Wie Polizeivorsteherin Barbara GünthardMaier (FDP) schon im Sommer verlauten liess, sei die interne Untersuchung bereits abgeschlossen. Dies bedeutet, dass viele Vorwürfe von Teilnehmern und Beobachtern der Demonstration, wonach das Eingreifen der Polizei unverhältnismässig gewesen sei, weiterhin im Raum stehen. Und es sieht nicht so aus, als ob sich an diesem Umstand bald etwas ändert: Viele Teilnehmer haben aus Angst vor hohen Gerichtskosten ihre Bussen bezahlt und weitere Prozesse bezüglich der Teilnahme an der Tanzdemo stehen nicht an.

Weiterhin hängig sind lediglich die Verfahren zu den Einsprachen gegen die Strafbefehle, die im Zusammenhang mit der Folgedemo «Bring Your Noise» ausgesprochen wurden, nachdem ein Teilnehmer der Demo im vergangen August vor Bezirksgericht unterlag und Berufung einlegte. Bis das Obergericht darüber entscheidet, sind die Prozesse dazu sistiert.

Zwar könnte die angekündigte Untersuchung der Ereignisse rund um die StandortFUCKtor-Demo durch die Stadtpolizei Zürich noch weitere Klarheit bringen, doch diese konzentriert sich lediglich auf die schwere Augenverletzung, die eine Demo-Teilnehmerin erlitten hatte. Und: Nicht nur Personen aus dem Umfeld des Revolutionären Aufbaus sondern auch Vertreter der Kultur- und Clubszene bemängeln, dass sich diese Untersuchung nun schon über fünfzehn Monate hinzieht.

 

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Ein Zeichen setzen: Die Wand des Winterthurer Baudepartements

 

Bilder: zvg

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