Digitalisierung ist ein Schlagwort, das in Regierungsprogrammen und Unternehmensstrategien allenthalben aufploppt – und alle verstehen etwas anderes darunter: Einmal geht es um das Entsorgen von Faxgeräten, ein andermal um die Implementierung von Algorithmen. Was bedeutet Digitalisierung im Kontext von Bibliotheken? Mehreres. Erstens das Ausleihen von Medien in einem digitalen Format. Zweitens das Digitalisieren von alten Beständen auf Papier, um sie online verfügbar zu machen. Und drittens das Sammeln von aktuellen, digital publizierten Medien.
Digitale Ausleihe
Beginnen wir bei der klassischen Dienstleistung einer Publikumsbibliothek: der Ausleihe. Eine Mehrheit der Lesenden bevorzugt immer noch Papier, doch mit dem Smartphone als universell verfügbarem Gerät für Text, Ton und Bild verlagert sich die Mediennutzung allmählich. Die Bibliotheken ziehen nach: Seit 2008 gibt es die Digitale Bibliothek Ostschweiz (dibiost), die Lizenzen erwirbt und die digitalen Medien dann wie analoge für eine bestimmte Frist ausleiht. Die Zahlen dazu sind ansehnlich: 2022 waren gemäss Jahresbericht rund 184'000 Medien verfügbar und es gab 470'000 Ausleihen. Das digitale Angebot ergänzen eine Reihe von spezialisierten Diensten wie der Pressreader für Zeitungen und Zeitschriften oder die Naxos Music Library.
Solche Online-Angebote bringen einen alltäglichen Nutzen für ein breites Publikum. Als Kantonsbibliothek ist die Vadiana aber auch eine Gedächtnisinstitution. Sie hat den Auftrag, Publikationen aus und über St.Gallen zu sammeln, sogenannte Sangallensien. Im Magazin an der Notkerstrasse zeigt Philipp Wiemann, Leiter Spezialabteilungen, ein paar besondere Schätze: Das Fotoarchiv Rietmann mit rund 70'000 Bildern, viele davon noch auf Glasplatten. Oder der Bestand aus dem Nachlass der Erker-Galerie von Franz Larese und Jürg Janett mit zahlreichen Büchern, Drucken, Briefen und Skizzen. Und Wiemann zieht das erste «St.Galler Tagblatt» vom 2. Januar 1839 aus dem Regal, das noch ein deutlich kleineres Format hatte als die späteren Ausgaben, die sich lückenlos bis in die Jetztzeit im Gestell aufreihen.
Bestände digitalisieren
Wer heute im «St.Galler Tagblatt» etwas sucht, kann sich durch Mikrofilme spulen oder aber diese grossen, schweren Bände aus dem Magazin holen lassen und sie durchblättern. Mühsam für die Nutzer:innen, schweisstreibend für den Magaziner, potenziell schädlich für das Papier. Eines der aktuellen Digitalisierungsprojekte ist deshalb, das «Tagblatt» vollständig online zu bringen. Dazu werden hochaufgelöste Scans hergestellt. Die Texterkennung ist inzwischen so intelligent, dass sie Titel, Bilder und Spalten korrekt einem Artikel zuweist, Werbung und Wetterprognosen als solche erkennt und auch Schlagworte generiert. Trotz aller Hochtechnologie steckt immer noch viel menschliche Arbeit darin: von der aufwendigen Vorbereitung bis zur abschliessenden Qualitätskontrolle.

Philipp Wiemann, Leiter Spezialbestände
Digitale Ausgaben herzustellen ist das eine, das andere ist, sie auch zugänglich zu machen. «Die Vadiana hat sich hier für Kooperationslösungen entschieden», sagt Philipp Wiemann dazu. Für das «St.Galler Tagblatt» arbeitet man mit der Nationalbibliothek zusammen, die die Zeitung auf e-newspaperarchives.ch hosten wird. Jahrbücher wie die «Gallus-Stadt» oder das «Rorschacher Neujahrsblatt» sind auf e-periodica.ch und die seltenen, sehr alten Bücher auf e-rara.ch zu finden, beides Plattformen der ETH Zürich. «Solche Kooperationen sind für alle Beteiligten finanziell interessant und es ist auch nutzungsfreundlich, wenn möglichst alles an einem Ort auffindbar ist», erklärt Wiemann.
Die Kantonsbibliothek besitzt über 800'000 physische Medien. Es ist aus rechtlichen und finanziellen Gründen unmöglich, alle einzuscannen. Wie wird ausgewählt? «Ein zentrales Kriterium ist die Bedeutung einer Publikation für den Kanton», erläutert Philipp Wiemann. Dann spielt auch die «Zerfallsbedrohung» eine Rolle: Alte und sensible Medien möchte man lieber nicht zu oft hervorholen, um sie zu schonen. Dafür sind Digitalisate eine ideale Alternative. Dank digitaler Zugänglichkeit erlangen Kernbestände zudem mehr Sichtbarkeit, sagt Wiesmann: «Durch das Internet können wir die Ausstrahlung von St.Galler Themen erhöhen und die Relevanz der Bibliothek und des Kantons zeigen.»
Knackpunkt Nachhaltigkeit
Die ältesten Bücher der Vadiana sind mehr als 500 Jahre alt. Werden ihre digitalen Kopien ebenso lang überleben? Das Zauberwort für die Langzeitarchivierung lautet «Standards». Die Daten werden nach ganz bestimmten Vorgaben abgespeichert und in Suchläufen periodisch überprüft und aufgefrischt.
Einer, der solche Standards mitentwickelt, ist Tobias Wildi. Der Historiker und Informatiker mit eigener Firma lehrt auch Archivwissenschaft an der Fachhochschule Graubünden. Er sagt: «Ein Archiv ist nicht tot. Es ist ein Organismus, den man pflegen muss.» Auch die Standards entwickeln und verfeinern sich, aber die Updates müssen die alten Daten aktualisieren können. Also, Herr Wildi: Können digitale Daten auch 500 Jahre alt werden? «Sicher ist nichts», sagt Wildi und lacht.
Die Server und die Suchläufe fressen Strom, viel Strom. Dazu bemerkt Wildi trocken: «Stimmt. Man kann nicht von Montag bis Donnerstag Daten abspeichern und am Freitag für das Klima demonstrieren.» Er habe schon Studierende berechnen lassen, wieviel Energie ein Terabyte Daten pro Jahr verbrauche, das sei extrem schwierig. Aber das Thema Nachhaltigkeit stehe unter Fachleuten weit oben auf der Agenda. Eine Sparmassnahme ist die Komprimierung von Daten, was die British Library mit einigem Erfolg gemacht hat. Eine andere die Speicherung von Sicherheitskopien auf Magnetbändern: «Sie brauchen keinen Strom, können an einem dritten Ort gelagert werden und sind überdies gefeit vor Cyberangriffen.»
Wildi glaubt an technische Lösungen für grosse Datenmengen und an die Künstliche Intelligenz, die bei der Verarbeitung hilft und mit noch mehr digitalisierten Publikationen noch besser trainiert werden kann. Die philosophische Frage ist, warum wir eigentlich immer mehr Daten produzieren und niemand Daten löscht. «Wenn der Keller des Gemeindehauses voll ist mit Akten, wird eine Mulde bestellt und ausgemistet. Aber vor dem Löschen von Daten haben alle Angst», sagt Wildi. Sinnvoll wäre es, die Dateien von Anfang an mit Aufbewahrungsfristen zu versehen und einen Löschprozess zu implementieren. Das betrifft allerdings vor allem Archive. Bibliotheken wählen schon beim Aufbau der Sammlung gezielt aus. Und sie bewahren in der Regel sowohl Originale als auch Digitalisate auf – der Server wird nie zu einem leeren Magazin führen.
Born digital
Damit zurück in die Vadiana und zum dritten Aspekt der Digitalisierung. «Born digital» nennen Fachleute Medien, die ausschliesslich digital publiziert werden. Der Anteil nimmt auch bei den Sangallensien laufend zu: Vereine wechseln für ihre Mitteilungsblätter von Print auf PDF, Musiker:innen veröffentlichen ihre Songs auf Spotify, Videos stehen auf YouTube und TikTok, Games im App-Store.
Für Bibliotheken ist das eine offene Baustelle. Philipp Wiemann sagt: «Wir haben noch kein fertiges Konzept dazu, was aus Social Media gesammelt werden soll und was nicht.» Abspeichern ist das eine. Das andere wäre der Aufbau einer Digital Collection für spezifisch Sanktgallisches, um das zeitgenössische Schaffen gut präsentieren zu können: ein aktuelles Ziel der Kantonsbibliothek Vadiana.
Gemäss der Einschätzung von Tobias Wildi ist «born digital» aktuell die grösste Herausforderung: «Alte Bücher kann man auch noch zehn Jahre stehen lassen. Aber was jetzt im Internet kursiert, ist in kurzer Zeit unwiederbringlich verloren.» Das Alte sichern und das Neue nicht verpassen: Digitalisierung bedeutet für Bibliotheken einen grossen Spagat. Das «St.Galler Tagblatt» ist nur eines von mehreren laufenden Projekten. Es soll 2027 abgeschlossen werden – daneben und danach gibt es noch viel zu tun.