Saiten im Sommer: Kribblig.
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«In den meisten Fällen entzieht sich das Insekt unserem Machtbereich; es auszurotten, wenn es schädlich ist, es zu vermehren, wenn es nützlich ist, das ist nicht zu machen. Einzigartiger Gegensatz zwischen Stärke und Schwäche: Der Mensch trennt Stücke vom Kontinent ab, um Meere zu verbinden; er durchbohrt die Alpen, er wiegt die Sonne, und er kann es nicht verhindern, dass eine elende Fliegenmade vor ihm seine Kirschen kostet oder eine widerliche Laus seine Weinberge vernichtet.»
Die Stärke der Insekten: Kaum ein Autor hat so viel darüber geforscht und gewusst wie Jean-Henri Fabre. Aus dessen Erinnerungen eines Insektenforschers, 1879 erstmals erschienen und in zehn Bänden auch auf Deutsch zu lesen, stammen die obigen Sätze. Fabre hat auf einem Stück Land, seinem «Harmas» im südfranzösischen Sérignan, jahrzehntelang Wespen, Schmetterlinge und andere Insekten beobachtet und über ihre evolutionären Tricks und Kniffs gestaunt und geschrieben.
Für dieses Sommerheft hat sich Saiten anstecken lassen von der Faszination für all das, was um uns kreucht und fleucht – und dem Menschen nicht nur zahlenmässig, sondern auch biologisch in vieler Hinsicht überlegen ist. Saiten wagt den Sprung in die Hobby-Entomologie, wir besuchen die Waldameisen im Naturmuseum, lassen uns von einer Schmetterlingskennerin die Aufzucht von Schwalbenschwänzen erklären, reden mit dem Wildbienenspezialisten, erzählen, wie aus dem Insektenvertilger ein Fliegenretter wurde, lernen, was die Bionik den Libellen und anderen Flug- und Schwimmvirtuosen abschauen kann, und gehen den Spinnen und Käfern in Film und Literatur nach.
Die Insekten sind trotz ihrer (noch) gigantischen Zahl bedroht. Nirgends nimmt die Artenvielfalt so rasch ab wie bei ihnen. Das Insektensterben sei eine mindestens so gravierende Bedrohung für die Erde wie der Klimawandel, sagt Bienenkenner Emanuel Hörler im Beitrag von Hanspeter Spörri. Das Mittel dagegen heisst Biodiversität. Bettina Dyttrich schreibt über die Anforderungen, die eine biologische und diversitätsfreundliche Landwirtschaft erfüllen müsste. Und das Stichwort Artenvielfalt zieht sich auch durch die anderen Beiträge im Titelthema wie ein roter Spinnenfaden. So unübersehbar und unausweichlich wie die Ameisen, die der Konstanzer Grafiker Christian Horrer für Saiten (beinah) lebendig werden lässt.
Weiter in dieser Doppelausgabe für Juli und August: Perspektiventexte über Asien und den Südsudan. Der umfassende Sommerführer mit allem, was an Kultur in der Ostschweiz wieder und trotz Corona zu sehen und zu hören ist. Samt zwei Dutzend Albumtips – Ersatz für all die ausgefallenen Festivals landauf landab. Und: Black Lives Matter! Auf einen kribbligen, schwirrenden, summenden, stechenden und allseits respektvollen Sommer.
Peter Surber
Der Inhalt:
Reaktionen / Positionen
Viel geklickt
In eigener Sache
Redeplatz mit Samantha Wanjiru
Stimmrecht von Farida Ferecli
Nebenbei gay von Anna Rosenwasser
Warum? von Jan Rutishauser
Ciao Kulturkonsulat
Volkes Seele I + II
Kribblig
Ameisen regieren die Welt. Und sie brauchen Lebensraum. Ein Besuch im Formicarium in Frauenfeld. Von Peter Surber
Respekt für die Fliegen, sagt Hans-Dietrich Reckhaus. Platz für die Bienen fordert Emanuel Hörler. Zwei Begegnungen. Von Hanspeter Spörri
Artenvielfalt ist das Gebot der Stunde, für Insekten und alle anderen. Auch für die Landwirtschaft. Von Bettina Dyttrich
Lernen von den Libellen. Was die Bionik den Flug- und Gleitkünsten der Tiere abschaut. Von Roman Hertler
Wer die Raupe nicht ehrt… Besuch bei einer Schmetterlingskennerin und ihren Schwalbenschwänzen. Von Julia Sutter
Spiderman, Sandwürmer, Pillendreher. Kunst und Kino nehmen es locker mit Insekten und anderem Getier. Von Wolfgang Steiger
Ameisen, Ameisen, Ameisen, Ameisen, Ameisen, Ameisen… Illustrationen von Christian Horrer
Perspektiven
Cattle Keepers: Flaschenpost aus Südsudan, dem jüngsten Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft. Von Judika Peters
Spirit of Adventure: Nelly Näfs Tagebuch über einen Trip 1974 im Bus von Lausanne via Teheran und Kabul nach Singapur. Von Gabriele Barbey
Black Lives Matter: Was George Floyd mit meiner toten weissen Grossmutter zu tun hat. Von Daniel Meister
Kultur
Musik-Sommer I: Alles wie vorher? Nein danke! Ein Plädoyer für eine nachhaltigere Clubkultur. Von René Rödiger
Musik-Sommer II: Juhu, wir dürfen wieder headbangen. Was der Festivalsommer bringt. Von Corinne Riedener
Musik-Sommer III: Sechs Seiten Hörgenuss mit 24 neuen und alten Sommeralben, heissestens empfohlen.
Kunst-Sommer: Unter freiem Himmel und im Block – lohnende Ausstellungsziele vom Bergell bis Samstagern. Von Kristin Schmidt
Theater-Sommer: Schweisstreibend auf Abstand – aber es wird wieder gespielt, landauf landab. Von Peter Surber
Sommer-Räume: Musik in Kapellen, Performance im «Auto», Fotografie im Block, Bücher in den Gassen. Von Peter Surber
Literatur-Sommer: Das Literaturhaus Thurgau feiert fast unbemerkt sein 20-Jahr-Jubiläum. Ein Blick zurück. Von Jochen Kelter
Nekrolog: Erinnerungen an den Cut-up-Autor und Pionier der Beatliteratur Jürgen Ploog. Von Florian Vetsch
Abgesang
Kehls Kompass
Kellers Geschichten
Pfahlbauer
Comic