Saiten im September: Windig
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Es war einmal vor langer Zeit in einer galligen Falte zwischen Berg und See, da kämpfte sich eine Magd über den Markt auf der Suche nach Rat. Um sie herum schreiende Händler, stampfende Rösser, stinkende Ställe. Weiter oben, hinter den Klostermauern, gut abgeschirmt von Gestank und Gesocks, hockten verhüllte Gestalten und horteten tausendseitige Schätze. Dort wollte sie hin: Wo das Wissen der bekannten Welt lag. Irgendjemand musste ihr doch weiterhelfen können. Nur darum hatte sie den heimischen Hof verlassen, ausnahmsweise.
Ihr Weg führte sie, gesäumt von Geschnorr und Geplapper, vorbei an etlichen Krämern, Gauklerinnen, Handwerkern und Edelleuten aus allen Landen. Hin und wieder blieb sie stehen, horchte nur oder liess sich sogar in ein kurzes Gespräch verwickeln. Als sie etwas ausser Atem und mit roten Backen endlich vor dem dicken Tor der Weisen stand, fiel ihr auf, dass sie gar nicht mehr wusste, warum sie sie eigentlich hatte aufsuchen wollen. Ihr Kopf brummte. Aber nicht so wie nach der allmorgendlichen Ohrfeige ihrer Herrin, sondern auf eine ganz wohlige Art. Auf den wenigen Metern zwischen Hof und Kloster hatte sie so viel Neues über die Welt gelernt. So viel gehört und gesehen. So viele neue Fragen. Das gefiel ihr, und sie beschloss, sich von nun an öfters fortzuschleichen.
1200 Jahre später ist die Stadt unserer wissensdurstigen Magd grösser und sauberer geworden. Und sie nennt sich jetzt vollmundig «Buchstadt» oder «Literaturstadt», und ihre Wissensschätze und Archivleichen werden freimütig aller Welt vorgeführt – gegen entsprechendes Entgelt natürlich. Das selbstbewusste Image als Hort der Wissensvermittlung wird vor allem gegen aussen gepflegt. Ausgelebt werden – von der Bevölkerung und den umliegenden Gemeinden – soll das bibliophile Selbstverständnis eher ungern. Zumindest, solang dieser Anspruch etwas kostet.
So zumindest könnte man die jüngsten Vorstösse der bürgerlichen Parteien gegen die neue Kantons- und Stadtbibliothek deuten, die in der Hauptstadt gebaut werden soll. Das Grossprojekt war eigentlich längst in trockenen Tüchern, wäre da nicht die selbsternannte Bildungspartei FDP. Sie macht nun Stimmung dagegen, aber lest selbst: David Gadze und Roman Hertler haben den freisinnigen Wandel und die Geschichte des Bibliotheksgesetzes ab Seite 24 aufgearbeitet.
Ja, eine ordentliche Bibliothek muss man sich eben leisten wollen. Doch der frühmittelalterliche Ehrgeiz dieser Region ist offenbar längst verpufft. Kein Wunder tickt St.Gallen heute lieber klein-klein. Bloss keine grossen Würfe, bloss keine kantigen Köpfe, bloss nicht öffentlich anecken – es könnte fast das Motto des derzeitigen Stadtrats sein. Alle fünf Mitglieder wollen am 22. September wiedergewählt werden. Reto Voneschen blickt ab Seite 34 zurück auf die Legislatur und fragt sich, was passieren müsste, damit der Wahlsonntag doch nicht gar so langweilig wird.
Ausserdem im überbordenden September: 20 Jahre Solinetz, viel los im Figurentheater, die Gewinner:innen des inklusiven Schreibwettbewerbs und allerhand weitere Lesestoffe. Und natürlich das Neuste aus der Saiten-Kombüse: Diesen Monat veranstalten wir einen Kongress, wir launchen unser neues Kalender-CMS und wir machen ein Crowdfunding. Phuh! Und im Oktober kommt dann unsere neue Website. Also nachlesen und dranbleiben, alle Infos gibt es ab Seite 6.
Corinne Riedener
Der Inhalt:
Reaktionen / Positionen
In eigener Sache: Auf zu neuen Ufern
Bildfang: Naturschütze(r)
Redeplatz mit Sükran Magro
Saitenlinie von Nathalie Grand
Stimmrecht von Liliia Matviiv
24/7 Traumacore von Mia Nägeli
Perspektiven
Bibliothek im Gegenwind
Der Leuchtturm kommt ins Wanken
Das Projekt für eine neue Kantons- und Stadtbibliothek in St.Gallen bekommt politischen Gegenwind. Die bürgerlichen Parteien fordern eine Verkleinerung und wollen die «regionale Ausgewogenheit» stärken. von David Gadze
Geringgeschätzte Bibliothekstradition
Dass die St.Galler FDP heute fordert, der Kanton solle auch die Bibliotheken ausserhalb der Hauptstadt berücksichtigen, ist löblich. Dass ihm dazu Geld und Rechtsgrundlage fehlen, ist aber das Resultat ihrer eigenen Politik. von Roman Hertler
Wahlen in der Stadt St.Gallen
Stadtrat: Überraschungen sind möglich
Am 22. September stehen Kampfwahlen um die fünf Sitze im St.Galler Stadtrat auf dem Programm. Am wahrscheinlichsten ist, dass die fünf Bisherigen bestätigt werden. Überraschungen liegen aber im Bereich des Möglichen. von Reto Voneschen
Parlament: Eine Mehrheit tickt heute links
Im September wird auch das St.Galler Stadtparlament neu gewählt. Mit grossen Verschiebungen ist nicht zu rechnen. Das Kräfteverhältnis zwischen links und rechts dürfte stabil bleiben. von Reto Voneschen
Inklusiver Schreibwettbewerb: «Überall sind wir»
Die Texte der drei Gewinner:innen Fiona Feuz, Juli und Percy Usleber
Kultur
Im Figurentheater
«Wir wollen Geschichten erzählen»
Seit zehn Jahren leiten Frauke Jacobi (Bild oben) und Stephan Zbinden das Figurentheater St.Gallen. Ein Gespräch über das Ankommen in St.Gallen, gekillte Darlings und den Zustand der Figurentheater-Szene in der Deutschschweiz. von Roman Hertler
Erinnerungen an Urs Bürki (1950—2024)
von Adrian Riklin, Margrit Bürer, Yves Ebnöther, Ursula Badrutt, Barbara Auer, Ueli Vogt, Gallus Knechtle
Ein baukulturelles Grossprojekt
Der Bauatlas Appenzellerland leistet praktische Hilfe beim Bauen an historischen Häusern und erzählt auch ein Stück Kulturgeschichte. von Corinne Riedener
Die «Stadtprojektionen» zeigen in St.Fiden Werke von neun Kunstschaffenden. Parallel dazu ist eine Publikation erschienen. von René Hornung
Nie Mode, immer Avantgarde
Die Schweizer Literaturzeitschrift «Orte» feiert ihr 50-Jahr-Jubiläum. Notizen aus der Redaktion: ein Blick zurück und ein Blick nach vorne. von Viviane Egli
Kult-X kämpft um seine Zukunft
Ob die Stimmberechtigten das Kreuzlinger Mehrspratenhaus weiterhin finanziell unterstützen möchten, zeigt sich am 22. September. von Judith Schuck
In St.Gallen findet erstmals das Festival Les Digitales statt. Im Vordergrund steht aber nicht das Tanzen, sondern das Chillen im Liegestuhl. von Philipp Bürkler
Parcours: Berg-Werk, Kellerbühne, Musiknachwuchs, Orgelfestival und Galeriejubiläum
Gutes Bauen Ostschweiz (XXII): 20 Jahre Lindenpark. von Theresa Mörtl
Plattentipps: Analog im September
Boulevard: Wiesenwart und Seitenwechsel
Abgesang
Kellers Geschichten: Gymnasiasten
Comic von Julia Kubik: Zeit
Apropos Neuigkeiten:
Vielleicht ist es euch beim Blättern schon in die Hände gefallen – das «Kunstblatt». Es befindet sich neu als Beilage jeweils in der Mitte des Hefts. Herausgegeben und konzipiert wird es vom Verein Kunstblatt. Dessen Ziel ist es, dem Ostschweizer Kunstschaffen eine monatliche Bühne in gedruckter Form und damit mehr Präsenz und Ausstrahlung zu verschaffen. Jeden Monat erhält ein:e Künstler:in oder Kollektiv den Auftrag zur Gestaltung des «Kunstblatts». Auf dessen Rückseite findet sich ein Einführungstext zum Werk und zur Person. Die Auswahl der Kunstschaffenden und der Autor:innen trifft das unabhängige Kurator:innen-Team des Vereins, derzeit bestehend aus Ursula Badrutt, David Glanzmann, Josef Felix Müller, Corinne Schatz, Hanspeter Spörri und Anita Zimmermann.
Das erste «Kunstblatt» hat das Kollektiv U5 gestaltet. Das A2-Poster zeigt verschiedene «Recreation Areas», kleine Inseln der Lebenshilfe. Zum Beispiel einen Friedhof der Zukunftsängste, eine Trauerweide der glücklichen Zufälle oder eine geflechtartige Biosphäre, in der man Hierarchien verlernen kann – eine Anspielung auf ihre eigene Organisationsform als U5-Kollektiv. Die kommenden «Kunstblatt»-Nummern werden ebenfalls knackig, so viel können wir bereits verraten. Wir freuen uns jedenfalls auf alle weiteren Künstler:innen aus der Region, die da noch folgen. (red.)