Saiten im September: Pflege braucht Pflege
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Blinddarm, Beinbruch, Brustkrebs. Geburt und Tod sowieso. Wir alle sind früher oder später auf Pflege angewiesen. Ich lag kürzlich selbst im Spital, durfte nach der OP nicht aufstehen und war drum auf Hilfe, unter anderem beim Pinkeln, angewiesen. Ganze viermal in einer Nacht habe ich den Knopf gedrückt. Und jedes Mal schlich die Pflegefachfrau vom Nachtdienst innert Kürze zu mir ans Bett, half mir aus der Hose, schob mir das «Schiffli» unters Füdli und holte nachher das Teil wieder ab.
Berührt hat mich nicht die Tatsache, dass mich diese Frau – mit ihrer jahrelangen Fachausbildung und Erfahrung – so gutgelaunt bei den stupidesten Körpervorgängen unterstützt hat, sondern dass sie auf Anhieb und im Halbdunkeln registrierte, wie schampar unangenehm mir diese Abhängigkeit von einer Fremden war. Dass sie mich direkt darauf angesprochen hat, einen flotten Spruch machte und mir so jegliches Unbehagen nahm. Später erzählte sie mir, wie heiss sie ihren Job liebt und dass sie die vollen Bettpfannen und vielen Begegnungen für keinen Chefinnensessel der Welt aufgeben würde.
Auch das gehört zur Pflege: Beziehungen aufbauen, Gespräche führen, Ängste nehmen, Menschen abholen und anleiten. Im öffentlichen Bewusstsein geht das vielfach unter, «die Pflege» wird zuerst mit medizinischen und körperhygienischen Leistungen assoziiert. Auch das Gesundheitssystem trägt der Breite des Berufs zu wenig Rechnung: Vieles, was Tag für Tag geleistet wird, ist nicht abgebildet im Leistungskatalog und kann darum nicht abgerechnet werden.
Es fehlen aber nicht nur Zeit und Geld – es fehlen vor allem die Leute. Der Berufsverband SBK schätzt, dass in der Schweiz bis 2030 rund 65’000 Pflegefachleute fehlen. Schon jetzt geben über 2400 Pflegende pro Jahr ihren Beruf auf, viele der Aussteiger:innen sind unter 35. Das hat viel mit den Arbeitsbedingungen zu tun. Hier setzt die Pflegeinitiative an, über die wir im November abstimmen: Sie fordert eine Ausbildungsoffensive, mehr berufliche Autonomie, fairere Arbeitsbedingungen und eine angemessene Abgeltung der Pflegeleistungen – damit die Pflegequalität weiterhin gewährleistet werden kann.
Diese Forderungen stammen noch aus präpandemischen Zeiten. Die vergangenen eineinhalb Jahre haben uns nochmal in aller Deutlichkeit spüren lassen, wie unverzichtbar die Pflege ist. Gründe genug also für dieses Heft: Julia Sutter pendelt zwischen Geburtshaus und Hospiz, das St.Galler Betagtenheim Halden hat uns einen Einblick in den Arbeitsalltag gewährt, Roman Hertler beschreibt, wie die Arbeitsbedingungen unter dem politischen gewollten Kostendruck leiden, Peter Surber geht der Frage nach, woher die tausenden zusätzlichen Pflegefachleute herkommen sollen, und Monika Müller-Hutter erklärt im Interview, was es braucht, damit eine Spitexfusion nicht zu Kündigungswellen führt. Illustriert wurde das Titelthema von Nino Christen. Seine Pflegesuperheld:innen bilden zusammen ein unschlagbares Team.
Ausserdem im Septemberheft: die satirische Stadtrevue HotSpotOst am Theater St.Gallen, wandeln auf Walser-Spuren, der neue Dokfilm über die vergessene Heldin Gertrud Woker, Anna Rosenwassers Brandrede für die Ehe für alle und Franziska Rysers Antworten, wie es nach dem Nein zum CO2-Gesetz weitergehen könnte.
Corinne Riedener
Der Inhalt:
Reaktionen
Viel geklickt
Wunderbar
Redeplatz mit Meret Trösch
Neustart
Nebenbei gay von Anna Rosenwasser
Warum? von Jan Rutishauser
Pflege braucht Pflege
Pendeln zwischen Geburtshaus und Hospiz: Wo die Pflegenden das Sagen und die Patient:innen alle Zeit der Welt haben. Von Julia Sutter
Was ist gerontopsychiatrische Arbeit, was leistet überhaupt die Pflege und wieviel davon ist Büroarbeit? Besuch im Betagtenheim Halden. Von Corinne Riedener
Die Arbeitsbedingungen leiden massiv unter dem politisch gewollten Kostendruck. Drei Beispiele aus der Region. Von Roman Hertler
Applaus genügt nicht. Die Schweiz braucht in den kommenden Jahren tausende zusätzliche Pflegekräfte. Und der Kanton knausert. Von Peter Surber
Was braucht es, damit bei einer Spitex-Fusion keine Kündigungswelle droht? Organisationsentwicklerin Monika Müller-Hutter im Interview. Von Roman Hertler und Corinne Riedener
llustrationen: Nino Christen
Fotos: Hannes Thalmann
Perspektiven
Offene Menschen und geschlossene Grenzen: Die Flaschenpost aus der Osttürkei zwischen Idyllen und Kriegsspuren. Von Daniel Bindernagel
Nicht wegen Toleranz – es gibt bessere Gründe, am 26. September Ja zu sagen zur Ehe für alle. Eine Brandrede. Von Anna Rosenwasser
Nach dem Nein zum CO2-Gesetz: «Wir bleiben dran». Franziska Ryser über die Klippen der Realpolitik und die Dringlichkeit, vorwärts zu machen mit dem Klimaschutz.
Kultur
St.Gallen soll es endlich schaffen und zum HotSpot-Ost werden: Das Theater St.Gallen nimmt die Gallenstadt satirisch aufs Korn. Uraufführung ist am 15. September. Von Peter Surber
Nastassja Martin überlebte einen Bärenangriff. Ihr Buch «An das Wilde glauben» stellt Fragen zu unserem Verhältnis zur Natur – und zum Wappentier. Von Katharina Brenner
Die Galerie vor der Klostermauer zeigt sich «In neuem Licht»: 90 Kunstschaffende, die irgendwann im kleinen Kunstort ausgestellt haben, zeigen je ein Werk. Von Richard Butz
Die Propstei St.Peterzell lädt wieder zur Sommerausstellung: Im riesigen Dachstock sind diesmal Schiffe und Matrosen gelandet. Das Meer kommt ins Neckertal. Von Kristin Schmidt
Sie war eine brillante Chemikerin – doch als Pazifistin und Frauenrechtlerin den Männern ein Dorn im Auge. Ein Film erinnert an die «vergessene Heldin» Gertrud Woker. Von Corinne Riedener
Der Dichter würde sich wundern: Vier Tage im September steht das Appenzellerland im Bann von Robert Walser. Von Peter Surber
Corona hat auch das Kulturprogramm im St.Galler Bahnhof Bruggen ausgebremst. Jetzt wird es neu aufgegleist, mit einem Verein und inspirierenden Quartier-Ideen. Von Roman Hertler
Contrapunkt, die Konzertreihe für zeitgenössische Klassik, erfindet sich einmal mehr neu. Ein Gespräch mit Präsident Charles Uzor und Trompeter André Meier. Von Bettina Kugler
Christine Fischer erzählt in ihrem neuen Buch «Herz. Kranz.Gefäss.» die Geschichte eines Abschieds. In das «Mutterbuch» der Tochter mischt sich die Pandemie. Von Peter Surber
Seit drei Jahren gibt es das Pilotprojekt «Kulturagent.innen für kreative Schulen». Kunst ist hier nicht Nebensache, sondern Lernmethode – z.B. in St.Margrethen. Von Peter Surber
Kellers Löwen, Kesslers Schopfe, Rosis Sünden, Eggenbergers Nachtigallen und Sommers Lyrik: der Kulturparcours.
Abgesang
Kehls Kompass
Kellers Geschichten
Pfahlbauer
Comic