Saiten im Oktober: Bösewichter haben keine Lieder

Der Schwerpunkt zum 50-Jahr-Jubiläum der St.Galler Singschule. Ausserdem im vielstimmigen Oktober: Eine Analyse des Falls um den Ostschweizer Reporter und Rapper G., dem sexuelle Belästigung vorgeworfen wird, der Abschied von Werner Signer und das neu renovierte Theater, der Kulturwahlherbst und die Flaschenpost aus Lesbos.
Von  Redaktion Saiten
Louis Vaucher hat die Singschüler:innen fotografiert.

Gesang löst. Gesang öffnet. Gesang verbindet. Gesang tröstet. Das Gefühl kennt nicht nur, wer regelmässig Fussballspiele besucht. Es ist eigentlich eine Lebensgrundlage. Die Stimme als naheliegendstes Musikinstrument, immer dabei, die urtümlichste Form akustisch-künstlerischen Ausdrucks. Niederschwelliger geht nicht.

Lassen wir mal die depperten Schmähgesänge in nationalistisch oder lokalpatriotisch aufgeladenen Fankurven und anderswo ausser Acht und folgen Johann Gottfried Seumer, der 1804 in seinem Gedicht Die Gesänge schrieb: «Wo man singet, lass dich ruhig nieder / Ohne Furcht, was man im Lande glaubt / Wo man singet, wird kein Mensch beraubt / Bösewichter haben keine Lieder.»

Klingt abgedroschen? Möglicherweise. Aber es stimmt eben doch. Wer kann nicht mindestens ein Lied aus seiner Kindheit nennen? Wer erinnert sich nicht an gesangliche Leistungen oder Missgeschicke aus eigenen Schultagen? Und muss dabei grinsen?

In St.Gallen, so ist anzunehmen, wird seit seiner Gründung gesungen. Zumindest ist kaum vorstellbar, dass der Wandermönch, ein Ire noch dazu, bei seinem einsamen Zug vom Bodensee die Steinach hinauf nicht wenigstens ab und an ein Liedlein über die Lippen kam. Klostergesänge, Schankhausgesänge, Kirchengesänge, Schulgesänge, Stadiongesänge: Die Geschichte St.Gallens ist definitiv auch eine Geschichte des Gesangs. Die ältesten schriftlich erhaltenen Choralnotationen der Welt befinden sich in der hiesigen Stiftsbibliothek.

Seit 50 Jahren wesentlicher Teil dieser Gesangsgeschichte ist die St.Galler Singschule. 1973 von Alfred und Annemarie Brassel ins Leben gerufen, weil es punkto ausserschulischer musikalischer Bildung für St.Gallens Kinder und Jugend schlicht nichts gab. Heute sei ihre Mission eigentlich erfüllt, sagt Chorleiter Bernhard Bichler im Interview: Während einerseits die traditionellen (Männer-)Chöre langsam aussterben, blüht andererseits die Kinder- und Jugendchorlandschaft geradezu auf – nicht nur in St.Gallen.

Das Titelthema in diesem Oktoberheft ist in Kooperation mit der St.Galler Singschule entstanden, die mit dem neu komponierten Stück Auf der Haut ihr 50. Jubiläum begeht. David Gadze ist seiner Entstehung nachgegangen. Saiten hat ausserdem mit Bernhard Bichler, Co-Vereinspräsidentin Barbara Nef und Sängerin Vera Blaser über die gesellschaftliche Wichtigkeit des Singens, den Zustand des Chorwesens und Visionen für die Singschule gesprochen. Gabriele Barbey widmet ihr Portrait der Anfang 2023 verstorbenen Singschulgründerin Annemarie Brassel (und ihrem 2021 verstorbenen Mann Alfred). Ehemalige und aktive Singschulstimmen berichten von ihren Erfahrungen. Und Peter Surber gibt Einblick in zwei erfolgreiche Jugendchorprojekte der Region.

Ausserdem im vielstimmigen Oktober: Mia Nägelis persönliche Analyse des Falls um den bekannten Ostschweizer Reporter und Rapper G., dem sexuelle Belästigung vorgeworfen wird; zur Neueröffnung des renovierten Theaters St.Gallen ein zweifacher Abschied vom geschäftsführenden Theaterdirektor Werner Signer sowie ein Beitrag in «Gutes Bauen»; der Kulturwahlherbst; das neue Album von Velvet Two Stripes und die Flaschenpost aus Lesbos, bei der es für einmal in erster Linie um die Menschen geht, die die Insel als ihre «Heimat» bezeichnen.

Roman Hertler

 

Der Inhalt:

Reaktionen/Positionen
In eigener Sache
Nebenbei gay von Anna Rosenwasser
Stimmrecht von Sangmo
Redeplatz aus Lichtensteig
Bildfang

 

Perspektiven

50 Jahre Singschule

Die St.Galler Singschule ist erwachsen geworden. Was als Kinder- und Jugendprojekt begann, besteht heute aus drei Erwachsenenchören: dem Konzertchor, den Frauenstimmen und dem Frauensingkreis.

Vera Blaser, Bernhard Bichler und Barbara Nef im Interview. (Bild: Andri Vöhringer)

«Unbedingt soll man heute noch klassisch singen.»
Interview von Roman Hertler und Peter Surber

Auf der Haut geht unter die Haut
von David Gadze

Annemarie Brassel (1938–2023) – ein Portrait
von Gabriele Barbey

Erinnerungen

Jugendchöre in der Region: E Freud!
von Peter Surber

 

Kulturpolitiker:innen gesucht

Personen, die sich explizit und mit Verve für die Kulturpolitik einsetzen, sind auf den Ostschweizer Wahllisten kaum zu finden. Das hat Gründe, unter anderem muss das Profil «Kulturpolitiker:in» auf nationaler Ebene erst noch erfunden werden. von Corinne Riedener

 

Weil er so fickt, wie sie alle gerne ficken würden

Dem bekannten Ostschweizer Reporter und Rapper G. werden sexualisierte Übergriffe und Belästigung vorwerfen. In der Medien- und Kulturbranche wird zum Fall mehrheitlich geschwiegen. Die Gründe dafür sind vielfältig, die strukturelle Liebe für männliche Abuser ist eine davon. Eine Analyse. von Mia Nägeli

 

Flaschenpost aus Lesbos: Eine Insel gebiert sich in den Kopf hinein. von Marguerite Meyer

 

Kultur

Signer geht

Werner Signer vor dem neu renovierten Theater. (Bild: Sara Spirig)

Signer-Theater: Rückblick in fünf Akten
von Peter Surber

Abgang – oder der letzte Schritt
Ein Gastkommentar von Christoph Nix

 

Kunst: Duschi statt Sushi – frühe Werke von Roman Signer im Kirchhoferhaus. von Wolfi Steiger

 

Musik: Wie ein Traum – das neue Album von Velvet Two Stripes. von David Gadze

 

Fotografie: Welt in unseren Gärten – das Foto-, Koch- und Sachbuch aus dem Lattich. von Bianca Schellander

 

Literatur: Vom Streiten und Schweigen – der neue Roman von Laura Vogt. von Lidija Dragojevic

 

Literatur: blau der wind, schwarz die nacht – Anna Sterns sechstes Buch. von Eva Bachmann

 

Kino: «Wissen ist irreversibel» – der Dokspielfilm Big little Women von Nadia Fares. von Corinne Riedener

 

Parcours: Skiba, Urtiere, Orbiter, Bickel und harte Töne

 

Plattentipps: Analog im Oktober

 

Gutes Bauen Ostschweiz: Das Paillard-Theater

 

Boulevard

 

Abgesang

Pfahlbauer

Kellers Geschichten

Kein Comic von Kubik