Saiten im Mai: Kein Mensch ist illegal

Der Bahnhof ist ein Risiko. Die Polizei macht dort immer wieder Personenkontrollen. Trotzdem zieht es viele Sans-Papiers dorthin – wegen dem Wifi. Einen Handyvertrag haben nämlich nur die wenigsten, dafür braucht es einen amtlichen Ausweis. «Wenn du wissen willst, wo es überall Gratis-Internet gibt, musst du nur uns Sans-Papiers fragen», sagt Sangmo. Mehr zu ihrer Geschichte ab Seite 20.
Die Sache mit dem Internet ist nur ein kleines von vielen Problemen der Sans-Papiers. Medizinische Versorgung, Schule, Arbeit oder Vorsorge: Wer kein Bleiberecht in der Schweiz hat, kann viele Rechte nicht wahrnehmen, die für die Mehrheitsbevölkerung ganz selbstverständlich sind – und eigentlich für alle gelten. Ihr illegalisierter Status zwingt die Sans-Papiers in die Anonymität, denn wer auffällt, kann auffliegen und im schlimmsten Fall ausgeschafft werden. Und wer seine Identität nicht preisgeben kann, kann sich auch nur schwer zur Wehr setzen, sei es im Arbeits- oder im Privatleben. Das fördert missbräuchliche und ausbeuterische Verhältnisse.
Sofern man denn Arbeit hat … In diesem Heft kommen drei Menschen zu Wort, die alle nicht arbeiten dürfen, zumindest nicht regulär. Ihre Asylgesuche wurden abgewiesen. Geht es nach den Behörden, müssten sie das Land verlassen. Sangmo, Baran und Hêja, die Namen haben wir zu ihrem Schutz geändert, sind sogenannte sekundäre Sans-Papiers. Sie versauern in der Nothilfe, teilweise seit Jahren. Dabei ginge es auch humaner, wie Pilot- und Integrationsprojekte für abgewiesene Asylsuchende in anderen Kantonen gezeigt haben. Aber hier wie dort gilt: Wo der Staat unwillig ist, müssen Private und verbündete Organisationen einspringen. Sangmo und die andern wissen das nur zu gut, ohne deren Hilfe wäre ihr Leben noch prekärer.
Die Gründe, warum Menschen nach Europa und in die Schweiz kommen, mögen noch so verschieden sein, aber sie alle eint die Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch während sich hochqualifizierte sogenannte Fachkräfte von ausserhalb der EU oder aktuell Geflüchtete aus der Ukraine relativ unkompliziert hier niederlassen dürfen, werden um die Festung Europa herum weiter massiv Grenzen aufgezogen. Systematische Gewalt und illegale Pushbacks sind an der Tagesordnung, die Menschenrechtsverstösse sind vielfach dokumentiert. Auch die Schweiz als Schengen-Mitglied profitiert von diesem tödlichen System, unterstützt es mit Personal und finanziert es mit. Am 15. Mai wird darüber abgestimmt, ob sie künftig einen noch höheren Beitrag zu Frontex beisteuert – statt wie bisher 24 Millionen Franken pro Jahr neu 61 Millionen.
Man kann es nicht genug betonen: Kein Mensch ist illegal – Menschen werden illegalisiert. Dieser Zustand ist beschämend und unhaltbar in einer fortschrittlichen und solidarischen Gesellschaft. Deshalb: Ja zur Bewegungsfreiheit am 15. Mai und Nein zum Geld für Frontex. Am Dienstag, 3. Mai ist die Kapitänin und Seenotrettungsaktivistin Carola Rackete mit NoFrontex in St.Gallen zu Gast, von 10 bis 12 Uhr auf dem Bärenplatz. Und um 19:45 Uhr spricht WOZ-Redaktor Kaspar Surber im Rahmen der Erfreulichen Universität im Palace mit ihr über das europäische Grenzregime, Menschenrechtsverletzungen durch Frontex und ihre Erfahrungen mit den illegalen Praktiken der Behörden.
Ausserdem im bewegten Mai: Joanna Hogg im Kinok, Carole Isler in Frauenfeld und demnächst in Kairo, Theater- und Tanzpremieren überall, der Knatsch um die Ladenöffnungszeiten in St.Gallen und – 50 Jahre nach «Grenzen des Wachstums» – das vielleicht letzte «Window of Opportunity» für diesen Planeten.
Corinne Riedener
Der Inhalt:
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Position – Kult-X
Redeplatz mit Dani Untersee
Nebenbei gay von Anna Rosenwasser
Warum? von Jan Rutishauser
Sans-Papiers
Baran, 17: «Wir machen den ganzen Tag nichts. Nur rumsitzen, essen und schlafen. Und dem Personal im Sonnenberg sind wir völlig egal. Ich würde so gerne eine Ausbildung machen.»
Sangmo, 31: «Mein Vater wollte eine bessere Zukunft für mich. Als ich in der Schweiz angekommen bin, war ich völlig überfordert. Ich habe lange gebraucht, um mich mit meiner Situation abzufinden.»
Hêja, 27: «Der türkische Staat ist auf Brutalität gebaut, ich wollte nicht ins Gefängnis. Jetzt lerne ich Deutsch mit YouTube und leere jeden Morgen voller Hoffnung den Briefkasten.»
Von Corinne Riedener (Texte) und Sangmo (Bilder)
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