Saiten im März: Radiologie
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Hört, hört, das Radio lebt! Kürzlich hat der Medienkonzern CH Media die Lancierung eines neuen Digitalsenders verkündet: «Flashback FM». Gemäss Communiqué sollen die Hörer:innen in die vergangenen Jahrzehnte «katapultiert» werden, vor allem die Musik der 80er, aber auch die grössten Hits der letzten Jahrzehnte sollen rezykliert werden. Das Logo versprüht Christian-Lindner-Wahlkampf-Ästhetik: neonfarbene Effekthascherei kombiniert mit inhaltlicher Ideen- und Mutlosigkeit.
Hat die Welt tatsächlich auf ein weiteres Konservenprogramm mit den besten Hits von Früher gewartet? Es kommt sogar noch dicker: «Radio Energy» aus dem Hause Ringier eröffnet dieser Tage seinen Ableger in St.Gallen und fischt damit im gleichen Teich wie «FM1». Es ist ja nicht so, dass die Medienhäuser sowas einfach aus Vergnügen machen. Im Rundfunkbusiness lässt sich offenbar immer noch relativ einfach – d.h. ohne grosse personelle und journalistische Aufwände – gutes Geld verdienen. Und offenbar hat die Welt eben doch darauf gewartet. In den Sozialen Medien schreit die Gaudimasse bereits nach einer Offa-Olma-Energy-Party. Die vom Eiszauber müssen sich jetzt warm anziehen.
Dabei könnte Radio so viel mehr sein als knallig-dumpfe Publikumsbespassung: ein Ort musikalischer Entdeckungsreisen ebenso wie Plattform für Debatten und Erprobung neuer Hörformate. Dass der Unterhaltungswert unter lustvoll und klug gemachtem Radio nicht leiden muss, haben zahllose, gerade auch kleinere Projekte längst bewiesen.
Eines davon ist «Toxic.fm». Zumindest war es das, bevor es vor einigen Jahren vom «Tagblattmedien»-Management zum Mainstream-Rock- Sender degradiert wurde. 2022 feiert das St.Galler Ausbildungsradio sein 20-jähriges Jubiläum. Grund genug, hinter die Toxic-Kulissen zu blicken und zu fragen, wohin der für April angekündigte Relaunch führen soll. Radiopläne hegt auch ein Kollektiv aus dem Rümpeltum-Umfeld: Unter dem Namen «Hässix.fm» sollen ab diesem Sommer politische Beiträge über den Äther gehen – antirassistisch, antikapitalistisch, feministisch. Emil Keller war im Studio in St.Fiden zu Besuch. Philipp Bürkler begibt sich auf eine rauschend-knackige Reise in die Kulturgeschichte des Radios und fordert mehr soziale Labore. Im Interview erklärt DAB-Pionier Thomas Gilgen, warum die Abschaltung der alten UKW-Signale das Radio demokratischer machen. Corinne Riedener hat mit Tim Pritlove, Podcaster der ersten Stunde, über Werbefuzzis und die Versäumnisse des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gesprochen. Und Ex-Toxic-Chefredaktorin Judith Altenau schliesslich bricht im ganzen Podcast-Hype eine Lanze fürs althergebrachte Formatradio. Für die Gestaltung des Titelthemas hat sich die Saitengrafik durch die Radiostationen rund um den Erdball gezappt.
Ausserdem im radioaktiven März: die unheimliche Flaschenpost aus der Ukraine, neuer Journalismus in Konstanz, Susan Boos’ Anti-Verwahrungs-Buch, die Wortlaut-Vorschau, die Mäntel der Brasilianerin Rivane Neuenschwander in Vaduz und natürlich das erfreuliche neue Stahlberger-Album. Guten Start in den massnahmenbefreiten Frühling!
Roman Hertler
Der Inhalt:
Reaktionen
Viel geklickt
Bildfang
Kulturpolitik
Redeplatz mit Fabian Mösch
Nebenbei gay von Anna Rosenwasser
Warum? von Jan Rutishauser
Radiologie
Der St.Galler Alternativsender «Toxic.fm» wird 20 und hat sich mehrfach gewandelt: vom wilden Studentensender zum Ausbildungsradio. Jetzt steht erneut ein Relaunch bevor – aber wer hört noch hin? Von Roman Hertler
Links vom Mainstream senden: Ein Kollektiv um das St.Galler Rümpeltum plant ein eigenes Internetradio. Es soll feministisch und antikapitalistisch ausgerichtet sein – noch fehlt aber das Equipment. Von Emil Keller
Warum sollen alle Radios gleich tönen? Warum begreifen wir Radio nicht als soziales Labor? Eine Spurensuche im Äther, zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Vergangenheit und Zukunft. Von Philipp Bürkler
Thomas Gilgen ist Radiopionier der Nach-UKW-Generation. Über sein DAB-Netz laufen zwei Drittel aller Schweizer Radiosender. «Schawinski ist heute ein Schlussliechtli», sagt Gilgen im Interview. Von Roman Hertler
Tim Pritlove gehört zu den Podcastern der ersten Stunde im deutschsprachigen Raum. Ein Gespräch über Nerd-Radio, die Lust an der Nische und die Versäumnisse des öffentlichen Rundfunks. Von Corinne Riedener
Sprachen lernt man am Radio: Warum es sich lohnt, jeden Tag auf die Taste zu drücken – gerade, wenn man neu in einem Land ist. Eine Liebeserklärung. Von Judith Altenau
Für die Gestaltung des Titelthemas ist das Saiten-Grafikteam in die Welt der Radios abgetaucht. Zu unterschiedlichen Zeiten hat es sich in die Radiostationen rund um den Globus eingewählt und per Shazam-App die gerade laufende Musik eruiert. Geholfen hat dabei das Projekt Radio Garden, das über 40’000 Radiostationen aus aller Welt versammelt und über eine World Map ansteuerbar macht, von Trogen bis Timbuktu.
Perspektiven
In Konstanz wird ein neues Onlinemedium lanciert, vorläufiger Name: «Projekt K». Die Initiant:innen wollen den gemeinnützigen Journalismus am Bodensee etablieren. Von Roman Hertler
Das Buch Auge um Auge von Susan Boos dreht sich um Sinn und Irrsinn der Sicherheitsverwahrung. Die Journalistin berichtet vom Leben hinter Mauern. Und plädiert überraschend für härtere Strafen. Von Adrian Lemmenmeier
Kultur
Wortlaut zum ersten: Tick Tack, der neue Roman von Julia von Lucadou, spielt im Vorhof der digitalen Hölle. Von Gallus Frei-Tomic
Wortlaut zum zweiten: Neue Programmtitel, neues Festivalzentrum, neuer Schwerpunkt am Festival. Von Peter Surber
Als die Schweizer Literatur «white no longer» wurde: Vincent O. Carters Bernbuch Meine weisse Stadt und ich. Von Karsten Redmann
100 Jahre, 135 Autor:innen: Charles Linsmayers Lesebuch 20/21 Synchron spiegelt die viersprachige Schweiz. Von Peter Surber
In Egnach gärt die Kultur: Der Tankkeller der ehemaligen Mosterei wird mit reichhaltigem Programm zwischengenutzt. Von Roman Hertler
«Da bi glaub gar nöd I». Doch: Manuel Stahlberger ist mit seiner Band und dem Album Lüt of Fotene ganz oben angekommen. Von Andrin Uetz
Mäntel gegen die Angst: Die brasilianische Künstlerin Rivane Neuenschwander im Kunstmuseum Liechtenstein. Von Kristin Schmidt
Radikal persönlich: Eva Vitijas feinfühliger Dokfilm über die Schriftstellerin Patricia Highsmith kommt ins Kino. Von Corinne Riedener
Dracula in Trogen, Capslock Superstar im Weltall, Sounds von Playmob.il und Scham im «Strapazin»: Der Kulturparcours.
Abgesang
Kellers Geschichten
Pfahlbauer
Comic