Saiten im März: 100 Jahre Palace
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Die Medienkrise hält an. Die Unternehmen der CH-Media-Gruppe – und damit auch das «St.Galler Tagblatt» und seine Regionalausgaben – müssen dieses Jahr ihre Personalkosten um weitere zehn Prozent senken. Es ist nicht die erste Sparrunde, die den hiesigen Redaktionen aufgebürdet wird, während die Abokosten steigen und lokale Inhalte ausgedünnt werden.
Es ist auch kein reines CH-Media-Problem, wie «Tagblatt»-Chefredaktor Stefan Schmid im Saiten-Interview ab Seite 28 richtig bemerkt. Auch die TX Group, Ringier und möglicherweise auch bald das SRF müssen weiter sparen. Der Abfluss von Werbeeinnahmen an globale IT-Multis führt zum Stellenabbau in der ganzen Schweiz. Gewiss, andere Branchen durchleben auch harte Zeiten. Den Niedergang der traditionellen Medien zu beklagen, ist aber nicht einfach Jammern auf hohem Niveau. Das anerkennt auch der Bundesrat, der Ende Februar Vorschläge zur kanalunabhängigen Medienförderung vorgelegt hat. Für alle zugängliche und zuverlässige Informationen sind in einer demokratischen, zunehmend digitalisierten Gesellschaft ein hohes Gut.
Die Demokratisierung der Plattformen war ein wichtiger Schritt Richtung Zugänglichkeit – aber ein Rückschritt in Sachen Zuverlässigkeit. Wahrheiten von Propaganda und Fake-News zu unterscheiden, wird immer schwieriger, erstens weil die schiere Menge an Social-Media-Beiträgen und -Kanälen explodiert, und zweitens weil Desinformation immer geschickter getarnt und gezielter verbreitet wird. Die neuste Generation der videoproduzierenden KI lässt grüssen.
Darum ist es wichtiger denn je, die Flut an Nachrichten auf ein konsumier- und demokratisch debattierbares Mass zu filtern und nach journalistisch-ethischen Grundsätzen einzuordnen. In diesem Zeitalter, in dem wir eigentlich vordringlich über den ökologischen Wandel diskutieren sollten, muss sich die Welt aber mit immer mehr heissen Konflikt- und Kriegsherden herumschlagen. Auch haben wir noch längst keinen gemeinschaftsförderlichen Umgang mit den «Socials» und den gleichermassen Chancen wie Gefahren bergenden künstlichen Intelligenzen gefunden. Und von sozialer Gerechtigkeit, zu deren Erreichen die erforderlichen ökonomischen Umverteilungsmechanismen schon vor weit über 100 Jahren erfunden wurden und also längst Lösungen da wären, sind wir weiter entfernt denn je.
Die Antworten auf all diese Herausforderungen müssen gemeinschaftlich ausgehandelt werden, wir dürfen die grossen Entscheidungen nicht den von Eigeninteressen gesteuerten Global Players aus Politik und Wirtschaft überlassen. Veränderung braucht Anstoss «von unten», darum braucht es gesellschaftliche Debatten auch im Regionalen, im Lokalen, im eigenen Umfeld. Funktionierende Lokalmedien spielen dabei eine entscheidende Rolle. Dafür setzt sich Saiten auch nach 30 Jahren und hoffentlich mindestens nochmals so lange ein. Damit uns die kriegshungrigen Despoten und besserwisserischen YouTube-Apologet:innen dieser Welt nicht noch den letzten Rest gesellschaftlichen Kitts herausklauben.
Solchen Kitt liefern auch stabile Hütten wie das 100-jährige Palace in St.Gallen, das sich seit dem Auszug des Kinos zum alternativen Kulturtempel gemausert hat und dem wir in diesem Heft einen Schwerpunkt widmen (ab Seite 16). Oder auch das 125-jährige St.Galler Volkshaus, über das der Journalist und Historiker Ralph Hug ein Buch geschrieben hat (mehr dazu auf Seite 51).
Ausserdem im kulturbeladenen März: Gabriele Barbeys Portrait über Ursula Mosimann-Zumbrunn, die ab 1968 im relativ frisch dekolonisierten Madagaskar ein Mädcheninternat leitete; die Flaschenpost aus dem anarchokapitalistischen Buenos Aires; der Nachruf auf den St.Galler Künstler Bernard Tagwerker und überhaupt viel Kunst und – nicht zuletzt, sondern weit vorne im Heft – der Abgesang auf unseren Rekordkolumnisten Charles Pfahlbauer jr. von Peter Surber, illustriert von Manuel Stahlberger.
Roman Hertler
Der Inhalt:
Reaktionen/Positionen
Redeplatz mit Rosmarie Simantirakis und Daniel Reichlin
In eigener Sache: Zwei wie Pech und Schwefel.
Eine Lobrede auf Charles Pfahlbauer jr. und seine unübertreffliche Mythologie der Gallenstadt. von Peter Surber und Manuel Stahlberger
Stimmrecht von Sangmo
Traumacore von Mia Nägeli
Perspektiven
100 Jahre Palace
Das Cinema Palace am St.Galler Blumenbergplatz wurde am 25. März 1924 feierlich eröffnet. Zum 100-Jahr-Jubiläum des ehemaligen Filmpalasts findet im März das «100vor100»-Festival statt. Es dauert 100 Stunden.
Bunter Musikstrauss: Zum runden Gebäudegeburtstag beschenkt sich das Kulturlokal mit diversen Konzerten und einem vielfältigen RahmenProgramm. von David Gadze
Versinken im Sessel: Endlich laufen im Palace wieder einmal ein paar Filme – vom Weltklassiker bis zum Kleinstadtknüller. von Corinne Riedener
Vom Kino zum Kulturlokal: Vor 20 Jahren musste für das Palace ein neuer Inhalt gesucht werden – und er wurde erfolgreich gefunden. Dem Filmvorführverbot zum Trotz. von René Hornung
Noch immer eine Kinostadt: Das Kinok hat seinen Platz in der Lokremise gefunden. Wichtig ist aber auch das Scala als letztes traditionelles Lichtspieltheater. von Andreas Kneubühler
«Mittelfristig müssen wir wieder über staatliche Medienfinanzierung reden»
Im Interview spricht «Tagblatt»-Chefredaktor Stefan Schmid über den Zustand und die Zukunft des Regionaljournalismus. Und er erklärt, wieso er seinen Ostschweiz-Hurra-Patriotismus mittlerweile etwas heruntertemperiert hat. von Roman Hertler
«Madagaskar gab mir Kraft»
Ursula Mosimann-Zumbrunn tritt 1968 die Stelle als Leiterin eines Mädcheninternats in Madagaskar an. Die Dekolonisierung ist damals in vollem Gang. Jetzt blickt sie auf jene Zeit zurück. von Gabriele Barbey
Flaschenpost aus Buenos Aires: Mileis Tanz auf dem Vulkan. von Nik Fischer
Kultur
Kunst
Himmel Helvetia: Bilanz mit Anita Zimmermann nach einem Jahr «Geiler Block» Numero 8. von Ursula Badrutt
Kunst
Material und Performanz: Die Filminstallation von Hermann Reinfrank (†) und Jan Buchholz im «Auto». von Michael Felix Grieder
Kunst
Was ist Malerei heute?: Olga Titus‘ paradiesische Grotte im Kunstmuseum Thurgau. von Kristin Schmidt
Nachruf
Er wollte sich selbst überraschen: Erinnerungen an den St.Galler Künstler Bernard Tagwerker (1942–2024). von Ursula Badrutt
Musik
Soundtrack der Sehnsüchte: Das Debutalbum von Bahnhofbuffet Chancental. von David Gadze
Musik
Eintauchen in eine mysteriöse Welt: Cruise Ship Misery melden sich mit einem Gesamtkunstwerk zurück. von David Gadze
Literatur
Die Stickerin: Margrit Schribers Roman über das Appenzeller Fädlermädchen in New York. von Corinne Riedener
Geschichte
Kulturkämpfe bis zuletzt: Ralph Hugs Buch zum 125-Jahr-Jubiläum des St.Galler Volkshauses. von Roman Hertler
Kino
Les Paradis de Diane: Der Film über eine Frau, die keine Mutter sein will. von Corinne Riedener
Parcours: Sans-Papiers, Luisa Zürcher, Matterhurt
Plattentipps: Analog im März
Gutes Bauen Ostschweiz: Dezentral und regional
Abgesang
Kellers Geschichten
Comic von Julia Kubik