Saiten im Juni: Das Schweigen der Männer
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Freimaurer – gibt es die überhaupt noch? Ungläubig reagiert der eine Kollege; eine Bekannte hat vage Vorstellungen von geheimen Ritualen, ein dritter, offensichtlich Dan Brown-geschädigt, fantasiert etwas von «Wein in Totenköpfen». Kennt man Freimaurer im öffentlichen Leben, im Ostschweizer Alltag? Fehlanzeige.
Anfang Juni trifft sich die Grossloge Alpina, der Dachverband der Schweizer Freimaurer, zu ihrer Jahresversammlung in St.Gallen. Die Freimaurer werden auch da diskret auftreten und ihre Tempelarbeit, wie die Rituale genannt werden, ohne Publikum abhalten. Aber es gibt Öffnungsbestrebungen. Saiten hatte im Vorfeld dieses Hefts unter anderem Gelegenheit, an einer «weissen Loge», einem Ritual mit eingeladenen Gästen, der Loge Humanitas in Libertate teilzunehmen. Im Tempel der insgesamt drei St.Galler Logen, im Dachstock des «Schlössli» am Spisertor, führte der «Meister vom Stuhl» in das Denken und Tun der Freimaurer ein.
Einige Eindrücke in Stichworten: Die Stimmung ist feierlich, sehr ernsthaft, gedämpft, der gegenseitige Umgang äusserst zuvorkommend. Die Dialoge sind formelhaft in altertümlicher Sprache, erinnern an Liturgietexte und rufen den «Grössten Baumeister aller Zeiten» an, aber die Atmosphäre ist zugleich eher handwerklich als spirituell. Die Bekleidung mit Schurz und weissen Handschuhen, das peinlich genaue Schliessen («Decken») des Raums, die Appelle des Zeremonienmeisters, die Arbeit am «Stein» mit Winkelmass und Zirkel, all das hat etwas Theatralisches. Das Entscheidende, erfährt man im Gespräch und heben auch die Freimauer in diesem Heft hervor, geschieht im Inneren und heisst so schlicht wie umfassend: Arbeit an sich selbst. Geheim ist dies höchstens insofern, als es sich der «leichthinnigen Plauderei» entziehen will, wie Bruder N. in seinem Beitrag schreibt.
Er und andere St.Galler Freimaurer erklären in diesem Heft, worum es der «verschwiegenen Bruderschaft» fast 300 Jahre nach ihrer Gründung geht, was sie persönlich daran fasziniert und wie wenig es mit gängigen Vorurteilen oder gar Verschwörungstheorien zu tun hat. Wir fragen zudem eine Freimaurerin, wie sie zum fragwürdigen Ausschluss der Frauen aus der Männer-Freimaurerei steht. Und wir stellen die Collectio Magica et Occulta der freimaurer-nahen Rosenkreuzer-Gemeinschaft in Stein AR vor, deren Sammlung sich heute in der Kantonsbibliothek Trogen befindet und aus der die abgebildeten Ritualgegenstände stammen. Wie immer man zu ihnen stehen mag: Die Freimaurer sind auf eine bemerkenswerte Art aus der Zeit gefallen – und damit schon wieder sehr auf der Höhe der Zeit.
Nicht geheim, aber tabu ist das andere Schwerpunktthema im Heft: Sexarbeit. Und nicht tabu, aber viel geschmäht ist das Ziel der Agglo-Expedition von Saiten in diesem Heft: Teufen. Saiten im Juni also heisst: Arbeit an den Vorurteilen…
Peter Surber
Der Inhalt
Reaktionen/Positionen
Blickwinkel von Tamara Janes
Stadtpunkt von Dani Fels
Einspruch
von Andreas B. Müller
Redeplatz
mit Roland Salzmann
Schöne neue Stadt 1+2
Freimaurerei
Licht und Schatten
Freimaurerei als Paralleluniversum zum Alltag.
von Bruder N.
Mythos, Ketten, Weihnachtskarten
Was es heisst, Tochter eines Freimaurers zu sein.
von O.G.
Unvereinbar mit «Alten Pflichten»
Gleichstellung der Freimaurerinnen? Schön wärs.
von Corinne Riedener
Sag mir, wo die Freimaurer sind …
«Schwarze Männer» in der Ostschweiz
von Reto Wambach
Magica et Occulta
Die Sammlung der Psychosophischen Gesellschaft aus Stein AR.
von Heidi Eisenhut
Menschenveränderer
Urs Weber, Mitglied eines Hochgradordens, über Geheimnis und Macht.
von Peter Surber
Die Bilder zum Titelthema stammen aus der Collectio Magica et Occulta (CMO) in Trogen. Fotos: Mario Baronchelli, Bearbeitung: Saiten-Grafik.
Perspektiven
Flaschenpost
aus Athen von Judith Eisenring
Schaffhausen
Thurgau
Vorarlberg
Rapperswil-Jona
Stimmrecht von Yonas Gebrehiwet
Arbeit an der Gürtellinie
Positionen zur Sexarbeit
von Hans Barth, Susanne Gresser, Corinne Riedener
#Saitenfährtein: Teufen
Teil fünf unserer Besuche in der Agglo rund um Gross-St.Gallen.
von Peter Surber
Kultur
Elio Riccas Debut ist ein 40-minütiges Drama.
von David Nägeli
Denkmal-Politik im Ersten Weltkrieg.
von Harry Rosenbaum
Ein Ostschweizer Macht-Terzett zum Konzilsjubiläum.
von Cathrin Caprez
In Nahid kämpft eine Iranerin um ihre Unabhängigkeit.
von Sarah Schmalz
Im Dunkelwasser: Menschen mit und ohne Handicap.
von Peter Surber
Was will Helge Timmerberg in St.Gallen?
von Tim Wirth
Schwarzaufweiss
Abgesang
Kehl buchstabiert die Ostschweiz
Kellers Geschichten
Charles Pfahlbauer jr.
Boulevard