Saiten im Januar: Shadows of Kurdistan
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Der Angriffskrieg ist brutal. Seit Monaten. Die Rede ist für einmal nicht von der Ukraine, sondern vom Nahen Osten. Während die tapferen Ukrainer:innen seit Frühling 2022 im Fokus der Öffentlichkeit stehen, weitet der türkische Staat seine Offensive gegen die Kurd:innen ständig weiter aus. Mit den gleichen völkerrechtswidrigen und brutalen Mitteln wie das Putin-Regime in der Ukraine. Und Europa? Schweigt. Dabei führt Erdoğan seinen Krieg so offen und dreckig wie noch nie.
Es gibt zahlreiche Meldungen über Angriffe mit Giftwaffen seitens der Türkei, darunter Videoaufnahmen von lokalen Medien, die zeigen, wie Guerillakämpfer:innen der PKK unter den Folgen von Angriffen mit chemischen Kampfstoffen leiden. Im Oktober erschien ein Bericht der NGO Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW), in dem weitere Vorwürfe zum Einsatz von Chemiewaffen in der Türkei untersucht und eine internationale Untersuchung auf der Grundlage der Ergebnisse gefordert werden.
Eine unabhängige internationale Prüfung dieser mutmasslichen türkischen Kriegsverbrechen gab es bisher nicht. Was auch damit zu tun hat, dass die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) in Den Haag nur auf Antrag der Unterzeichnerstaaten aktiv werden kann, nicht aber auf Antrag eines Volkes. Nichtstaatliche Akteur:innen und Völker ohne Staat – wie die Kurd:innen – haben keinen Zugang zu diesen Rechtsmechanismen.
Warum greifen die Europäischen Institutionen, die sich so gern mit Demokratie und Menschenrechten rühmen, nicht ein? Wer verfolgt welche Interessen im Nahen Osten? Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass die Kurd:innen seit 100 Jahren ein Schattendasein führen? Wie ist die aktuelle Situation in den vier Teilen Kurdistans? Warum gehen die Kurd:innen in Europa weiter auf die Strasse und wie mobilisieren sie?
Dieses Heft sucht nach Antworten. Ronî Riha ordnet die historischen Zusammenhänge und die aktuellen Entwicklungen aus innerkurdischer Sicht ein. Fesih Kaya erzählt, warum er letzten Sommer von der Türkei in die Schweiz flüchten musste. Fidan und Azad vom kurdischen Kulturverein in St.Gallen reden im Interview über Erdoğans langen Arm und darüber, was die Welt von Rojava lernen könnte. Und Fotograf Murat Yanar zeigt uns seine «Shadows of Kurdistan».
Ausserdem im kämpferischen Januar: Peter Fux vom neu benamsten Kulturmuseum (ex HVM) nimmt Stellung zu seinem emotionalen Schepenese-Statement und den eigenen Leichen im Keller, Brigitte Schmid-Gugler beschreibt ihre Erinnerungen an den abtretenden St.Galler Kunstmuseumsdirektor Roland Wäspe, Arno Tanner berichtet über den Prozess gegen 24 Seenotretter:innen auf Lesbos und bandXost-Projektleiterin Nadine Jordan blickt zurück auf die letzte Austragung und das Wachstum des Ostschweizer Nachwuchswettbewerbs.
Während der Arbeit an diesem Heft hat das Regime im Iran begonnen, die ersten Demonstrierenden hinzurichten. «Jin, Jiyan, Azadî!» ist der der Slogan der gegenwärtigen Proteste, kurdisch für «Frauen, Leben, Freiheit». Es ist ursprünglich die Parole der kurdischen Freiheitsbewegung, deren Vordenker Abdullah Öcalan seit 1999 im Gefängnis sitzt, und wurzelt in der Überzeugung, dass eine Gesellschaft nur so frei sein kann, wie es die Frauen in dieser Gesellschaft sind. Das gilt freilich nicht nur für die Frauen im Nahen Osten und insbesondere im Iran, sondern für alle Gesellschaften dieser Welt. Aber im Moment kann man es nicht oft genug rufen: Jin, Jiyan, Azadî!
Corinne Riedener
Der Inhalt:
Reaktionen/Positionen
Bildfang
Stimmrecht von Sangmo
Warum? von Jan Rutishauser
Redeplatz mit Nadine Jordan
Nebenbei gay von Anna Rosenwasser
Schwerpunkt Kurdistan
Türkei, Irak, Syrien, Iran: Die Bevölkerung Kurdistans wird in allen vier Teilen angegriffen. (Trauriger) Grund genug, wiedermal hinzuschauen und Fragen zu stellen.
Wo steht Kurdistan?
von Ronî Riha
Flucht als letzter Ausweg
von David Gadze
«Die Kurd:innen werden im Stich gelassen»
von Corinne Riedener
Bilder «Shadows of Kurdistan»
von Murat Yazar
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Kurdische Mädchen auf dem Weg in die türkische Schule. Doğubeyazıt, Türkei 2021. (Bild: Murat Yazar)
Flaschenpost aus Lesbos
Wo Unrecht zu Recht wird
von Arno Tanner
Debatte
«Schepeneses Zuhause gibt es nicht mehr»
Mit scharfen Worten hat sich Peter Fux, Direktor des Kulturmuseums St.Gallen, in die Debatte um die Rückführung der Mumie in der Stiftsbibliothek eingeschaltet. Im Interview erklärt der Archäologe, warum er will, dass Schepenese bleibt, was ihn an der aktuellen «Wokeness-Welle» stört und wie das Kulturmuseum mit den eigenen Leichen im Keller umgeht. von Roman Hertler
Kultur
Rückzug ohne Eile
Persönliche Erinnerungen an den abtretenden Kunstmuseumsdirektor Roland Wäspe. von Brigitte Schmid-Gugler
«Acht Bilder pro Sekunde reichen völlig»: Die Künstlerin und Filmemacherin Luisa Zürcher. von Philipp Bürkler
Film-Reisen durch die Schweiz: Drehort Schweiz zeigt Film-Locations von Aarau bis Zwieselberg. von Richard Butz
Wie lange haben wir Zeit?: Jan Gassmanns neuer Film 99 Moons. von Corinne Riedener
Gutes Bauen Ostschweiz (IV): Ungleiche Schulhäuser. Bauen mit Holz liegt im Trend – auch bei Schulbauten. von Daniela Meyer
Parcours: Linkteratur bei L∞T, Das Rorschach-Heft singt das Vereinslied, UNO im Formtief und die Schweiz mittendrin Blumen der Vergänglichkeit
Analog im Januar: von Magdiel Magagnini, Lidija Dragojevic und Philipp Buob
Abgesang
Kellers Geschichten
Comic von Julia Kubik
Pfahlbauer jr.