Saiten im Februar: Lauter Geständnisse.
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Wir alle haben sie, die sündigen Leidenschaften oder neudeutsch: guilty pleasures. Die Rede ist nicht von irgendwelchen Models, die auf Instagram mit einem fettigen Burger posieren – #guiltypleasure! – und ihn nach dem #perfectpicture unverdrückt in die Tonne werfen. Wir reden hier von Dingen, die man wirklich ungern zugibt, oder zumindest nicht öffentlich. Von Dingen, die einem andere nicht zutrauen, die nicht mit dem Ruf vereinbar oder schlicht nicht zu vertreten sind. Ich zum Beispiel liebe Knarren aller Art. Sturmgewehr, Revolver, scheissegal. Ich wäre eine fantastische Schützin, würde ich regelmässig schiessen, aber das gehört sich nicht als erklärte Gegnerin der Rüstungsindustrie, darum beschränke ich mich heute aufs Dosenschiessen mit dem Luftgewehr am Jahrmarkt. Und ja, ich höre manchmal heimlich hochgradig sexistischen Rap. Und wenns mir schlecht geht ABBA (was aber nichts ist, wofür ich mich schäme).
Wo wir grad bei grenzwertiger Musik sind: Rednex, Britney Spears, Andrea Berg, Lou Bega, Vanilla Ice, Europe, Frankie Goes To Hollywood, Taylor Swift, Gölä, Ed Sheeran und Andrea Bocelli, MC Hammer, Mariah Carey, Wham, Spice Girls, Kelly Family, Helene Fischer, R. Kelly, Scooter, Kollegah, Ricky Martin. Das ist nur eine kleine Auswahl der Namen, die gefallen sind, wenn ich in den letzten Wochen herumfragte, wie denn die musikalischen guilty pleasures in meinem Umfeld so heissen. Zum Glück hat einst eine pragmatische Seele die Bad-Taste-Partys erfunden, da kann man sich diesen Lastern ungeniert hingeben, samt entsprechendem Outfit. Und dann ist da natürlich noch das berüchtigte Trash-TV: vom «Dschungelcamp» über «Germany’s Next Topmodel» und «Tüll und Tränen» bis zu den Kardashians war alles dabei.
Alles harmlos. Es gibt aber auch Dinge, die wirklich sündig sind. Fleischessen zum Beispiel. Wenn wir ehrlich sind, wissen wir, dass es auch ohne ginge und die Welt eine bessere wäre, würden wir nicht aus Spass an der Gaumenfreude massenhaft und industriell alle möglichen Tiere dahinmetzeln. Oder Flugreisen – jetzt gerade wieder brandaktuell angesichts des kürzlich versenkten CO2-Gesetzes und der anhaltenden Klimastreiks von Schülerinnen und Schülern in aller Welt. Eigentlich nicht vertretbar. Und wenn, dann nur in verträglichen Massen.
Und trotzdem tun wir all diese Dinge, kokettieren sogar hin und wieder mit unseren Sünden. Warum? Rolf Bossart versucht diesen skrupulösen Reflex in seinem Beitrag zu erklären. (Spoiler: Es hat mit der Zweideutigkeit des Lebens zu tun.) Roman Hertler hat sich mit dem dreckigen und politisch inkorrekten Humor beschäftigt, und auf den weiteren Seiten haben wir Geständnisse aller Art zusammengetragen. Anna Rosenwasser erzählt zum Beispiel von ihrem Faible für Taytay, Veronika Fischer von ihrem häuslichen Helfer, Etrit Hasler vom Krieg spielen und Judith Altenau und Nadja Keusch vom Glück der seichten Unterhaltung. Die Beichtstühle zum Titelthema hat Till Forrer fotografiert.
Ausserdem im Heft: das Ständerats-Doppel, die Food Revolution, Zersiedelung, Spider-Man und Künstliche Intelligenz.
Corinne Riedener
Der Inhalt:
Reaktionen/Positionen
Redeplatz
mit Men J. Schmidt
Stimmrecht von Morena Barra
Herr Sutter sorgt sich… von Bernhard Thöny
Evil Dad von Marcel Müller
Innensichten: Zum Goldenen Leuen/Naz und Tibits
Mensch Meyer von Helga und Janine Meyer
#guiltypleasure
Asoziales auf dem Teller
von Corinne Riedener
Schöner Schund
von Judith Altenau
Verteidigung des Fliegens
von Ruben Schönenberger
Netflix und Trainerhosen
von Nadja Keusch
Der schöne Geist des Krachs
von Julia Kubik
Mit Taylor Swift gegen Heteronormativität
von Anna Rosenwasser
Ich «spiele» gerne Krieg
von Etrit Hasler
Robo-Love
von Veronika Fischer
Vom Glück der lässlichen Sünde
Überlegungen zur Kultur der Zweideutigkeit in einer Gesellschaft, die immer mehr Extreme und Schwarz-Weiss fordert.
von Rolf Bossart
Perspektiven
Flaschenpost aus Tschernobyl.
von Michael Hug
Für die Frauen! Für das Klima!
Die Ständeratskandidaten Susanne Vincenz-Stauffacher und Patrick Ziltener im Interview.
von Corinne Riedener und Peter Surber
Stopp für die «Verbrauchsschweiz».
Benedikt Loderer erklärt, warum er ein Einzonungsmoratorium fordert.
von René Hornung
Zum Beispiel Wittenbach
Basil Oberholzer zum Siedlungsbrei und der Zersiedelungsinitiative.
von Peter Surber
Kultur
Schimmelznacht im Hühnerturm: Die Ausstellung «Food Revolution 5.0».
von Valérie Hug
Stockentengrün und eissturmvogelgrau: Anna Sterns
Roman Wild wie die Wellen im Meer.
von Eva Bachmann
Streetart: Spider-Man erhält Auffrischung nach Stan Lees Tod.
von Wolfgang Steiger
Nordklang: Melancholische Bartträger und laute Frauen.
von Marion Loher
Himmelwärts mit Stampfbeton: Christoph Schaubs neuer Film Architektur der Unendlichkeit.
von Peter Surber
Das Stück Ich bin nicht menschlich geht Fragen zur künstlichen Intelligenz nach.
von Corinne Riedener
Retro-Spielsalon: Mit Donkey Kong einen Club Mate schlürfen.
von Urs-Peter Zwingli
Parcours
Gedichte im Februar
von Claire Plassard und Florian Vetsch
Mixologie
von Niklaus Reichle und Philipp Grob
Am Schalter im Februar: #BeichteFürEinenFreund
Abgesang
Kellers Geschichten
Kreuzweiseworte
Pfahlbauer
Boulevard