Saiten im Dezember: Weiter denken

Ein Heft über und mit Refugees. Und mit weiten Ausblicken auf die postmigrantische Gesellschaft. Ausserdem: Freies Theater. Offene Töne. Weltläufige Bücher. Und ein geschenktes Manifest.
Von  Redaktion Saiten
Zurückgelassene Kleider an der Küste, Cabo de Gata, Spanien 2008. (Bild: Christophe Chammartin)

Nein, dieses Heft ist keine Antwort auf die grauenhaften Anschläge von Paris vom 13. November. Antworten darauf werden anderswo gesucht, hilflos und fragwürdig allesamt: militärische, pazifistische, diplomatische, emotionale, sprachlose Antworten. Zum Zeitpunkt der Anschläge war diese Saitenausgabe im Endspurt. Den Plan, im Dezember ein Heft zur Lage der Refugees hier und anderswo zu machen, hatten wir bereits Monate zuvor gefasst. Inklusive den festen Vorsatz, vor allem Asylsuchende in der Ostschweiz selber zu Wort kommen zu lassen.

In diesem Sinn ist dieses Heft vielleicht doch eine Antwort. Es will Flüchtlingen eine Stimme geben. Viele haben im St.Galler Solidaritätshaus ihre Anlaufstelle gefunden. Sie reden hier von den Schwierigkeiten, die sie im Alltag, beim Deutschlernen, bei der Arbeitssuche erleben, und davon, wie und warum sie in die Schweiz gekommen sind. Einige haben für Saiten ihre Geschichte aufgeschrieben, in der fremden hiesigen und in ihrer eigenen Sprache.

Sie sind hier, und sie sind Teil einer Gesellschaft, die sich immer noch weitherum einbildet, Migration sei ein vorübergehendes Ungemach. Dass dem nicht so ist, erklärt der Publizist und Migrationsforscher Kijan Espahangizi in seinem Essay «Im Wartesaal der Integration ». Der Fotograf Georg Gatsas arbeitet an einem Projekt, das gleichfalls auf die dringend notwendige Korrektur in den Köpfen abzielt: auf die Einsicht, dass wir längst in der postmigrantischen Gesellschaft leben. Genaue poetische Worte dafür findet die junge Autorin Claire Plassard.

Die post-migrantische Gesellschaft zeichnet sich aus durch Mobilität, durch Vielfalt, Durchlässigkeit, durch den Verlust von Zugehörigkeiten und den Gewinn an Farbe. Gegen all dies, muss man annehmen, richtet sich der Terror der Fanatiker. Klar ist, dass solcher Fanatismus seine Ursachen auch in der Ungerechtigkeit der sozialen und ökonomischen Verhältnisse hat. Ein Beispiel dafür sind die katastrophalen Arbeitsbedingungen von Immigranten auf den Plantagen Andalusiens, auf denen unser Gemüse wächst. Die Landarbeitergewerkschaft, die sich für sie einsetzt, erhält dafür in diesen Tagen den Menschenrechtspreis der St.Galler Grüninger Stiftung.

In der Mitte dieses Hefts liegt ein Bogen Weihnachtspapier und auf ihm: das nomadische Manifest von Saiten. Wir freuen uns, wenn Sie es zum Geschenk-Verpacken brauchen und damit nomadisch weitergeben. Oder an die Wand kleben. Es ist aus der Überzeugung geschrieben: In Zeiten wie diesen kann es nur darum gehen, die Welt und die Ostschweiz weiter statt enger zu machen–mit allen Risiken. Und mit aller Neugier.

Saiten

 

Der Inhalt:

Reaktionen & Positionen
Blickwinkel von Marco Kamber
Redeplatz mit Gabi Bernetta
Gebremst – Juriert
Stadtpunkt von Dani Fels

 

Weiter denken

Keine Zeit, um Kind zu sein
Ein Besuch bei den UMA im Thurhof.
von Urs-Peter Zwingli

«Wenn ich nicht in die Schule kann…»
Schülerinnen und Schüler des Integra-Deutschkurses schreiben über sich.
von Tenzin Ngodup, B., Khalid, SelomunN Zerihun, Meera, M.A., Dai Suan Mung, M.T., N.N. Serdar und Corinne Riedener

Glossar

Den (Post-)Migrantinnen gehört die Zukunft.
von Georg Gatsas

26’2850 Franken
Aman ist 2008 aus Eritrea geflüchtet. Heute putzt er SBB-Waggons.
notiert von Philipp Bürkler

Arbeit wäre genug da, aber…
Solihaus und Solinetz St.Gallen leisten Integrationsarbeit. Und reiben sich an den st.gallischen Asylstrukturen.
von Peter Surber

Im Wartesaal der Integration
Die Schweiz ist längst angekommen in der postmigrantischen Realität – sie will es nur nicht wahrhaben.
von Kijan Espahangizi

«Die Immigranten sind das letzte Glied»
Die Gewerkschaftsarbeit in den Gemüseplantagen Andalusiens wird mit dem St.Galler GrüningerPreis ausgezeichnet.
von Erich Hackl

ihnen meine handschuhe
von Claire Plassard

Die Fotos im Titel sind von Georg Gatsas und Nader Afshar

 

Perspektiven
Flaschenpost von Maja Hess aus Kurdistan
Schaffhausen
Thurgau
Vorarlberg
Rapperswil-Jona
Stimmrecht von Yonas Gebrehiwet

 

Kultur

Wenn jeder kaputt geht
Der türkische Film Köpek ist ein Dokument der Krise
von Urs-Peter Zwingli

Im Bett mit Hope Sandoval
Neue Alben von Bit-Tuner und Augenwasser.
von Corinne Riedener

Hundekot und Quallen am Traumstrand
Knuts Koffer transportiert Vinyl im Doppel.
von Martin Mühlegg

Zeichnen gegen die Repression
Bericht von der Egypt Comix Week in Kairo.
von Lika Nüssli

Irritationen seit 30 Jahren
Bücher als Kunstwerke: Ein Glückwunsch an den Vexer Verlag.
von Wolfgang Steiger

Laute Bescherung
Das freie Theater blüht. Aber nicht genug, findet Michael Finger.
von Peter Surber

Bücher, die zu unserer Zeit reden
Neuerscheinungen, empfohlen von Buchhändlerinnen und Buchhändlern.

Weiss auf schwarz

 

Abgesang
Kellers Geschichten
Charles Pfahlbauer jr.
Boulevard