Russland, das verlorene Kind

Für seinen letzten Film «Leviathan» erhielt Regisseur Andrei Swajaginzew in Cannes den Preis für das beste Drehbuch. Sein neuer Film «Loveless» hat wieder zahlreiche Nominationen und Preise eingeheimst. Er erzählt eine tragische Familiengeschichte als düstere Parabel über das moderne Russland.
Von  Frédéric Zwicker
Die Mutter am Handy, der Sohn in Tränen.

Da ist so viel Schein, dass gar kein Platz mehr bleibt für ein Sein. Zhenya, die Mutter, trainiert den Körper, lässt sich die Schamhaare mit Wachs entfernen und setzt sich in den Sozialen Medien in Szene. Foodporn und Selfies aus dem Beauty-Salon. Boris, der Vater, muss dem Chef vorgaukeln, mit seinem Ehe- und Familienleben sei alles in bester Ordnung. Genau wie seine Kolleginnen und Kollegen. Denn der Chef ist orthodoxer Christ, und wer den russisch-christlich-orthodoxen Familienidealen nicht gerecht wird, hat in der Firma nichts verloren und muss mit der Entlassung rechnen. Und so ist es am Ende nicht verwunderlich, wenn das Sein, die Existenz des Kindes, sich mehr und mehr auflöst.

Denn ein Punkt, an dem sich die lautstarken Streitereien der sich gegenseitig hassenden Noch-Ehepartner entflammen, ist Aljoscha, der gemeinsame Sohn. Bei wem wohnt er nach der Scheidung und dem Verkauf der Wohnung? «Er braucht seine Mutter», sagt Boris, der seine neue Freundin, mit der alles ganz anders ist als mit Zhenya, schon geschwängert hat.

«Nein, in seinem Alter braucht er viel mehr seinen Vater», entgegnet Zhenya, deren neuer Freund der erste Mann ist, den sie je richtig geliebt hat. «Dann eben ins Internat, bevor er ins Militär geht», brüllt sie. Dort könne er sich schon einmal ans Alleinsein gewöhnen. Der zwölfjährige Sohn kriegt das alles mit und weint stille Tränen. Und ist einen Tag später verschwunden.

Unsympathisches Personal

Die Hauptfiguren im neuen Film des russischen Regisseurs Andrei Swajaginzew sind mit Ausnahme des Jungen Aljoscha unheimlich unsympathisch. Sie bevölkern ein düsteres Russland, ein Putin-Russland, das sich hauptsächlich übers Autoradio als dunkle Ahnung in die Unmenschlichkeit dieses Films mischt.

«Ich wollte dieses Kind wirklich nicht», verrät Zhenya ihrem neuen Freund. «Als sie ihn mir brachten, war ich angewidert. Ich habe nicht einmal Milch produziert. Bis heute denke ich, ich hätte einen schlimmen Fehler gemacht, wenn ich ihn sehe. Ich will unbedingt glücklich sein. Ich bin ein Monster, nicht?» Und ihr neuer, reicher Schablonenfreund antwortet: «Natürlich. Das wunderbarste Monster der Welt.»

Loveless von Andrei Swajaginzew: ab 10. Mai, Kinok, St.Gallen
kinok.ch

Und dann ist Aljoscha weg. Abgehauen. Entführt? Die Polizei kümmert sich erstmal gar nicht, empfiehlt, eine Gruppe Freiwilliger zu engagieren, die gemäss dem Polizisten tatsächlich Resultate liefern. Der Staat ist kalt und gleichgültig. Genau wie die Eltern, die allerdings allmählich zu realisieren beginnen, dass ihr Sohn doch irgendwo in ihren Verantwortungsbereich fällt. Sie müssen sich zusammenraufen. Aber die Hoffnung, so viel ist klar, liegt in Sachen Aljoscha – auch in Bezug auf die Zukunft Russlands? – allein auf den Schultern der Freiwilligen aus der Zivilbevölkerung.

Die Zukunft

Loveless ist kein vergnüglicher Film. Auch keiner, den man versteht, ohne sich eingehend Gedanken zu Russland zu machen. Er spielt an den Rändern Moskaus. Vieles ist zerfallen, anderes so modern wie die modellierten Existenzen seiner Figuren. Die Unmenschlichkeit der lieblosen Eltern passt zum Bild, das Swajaginzew vom modernen Russland zeichnet.

Putin hat vor einigen Tagen erneut geschworen, sich als Präsident voll und ganz in den Dienst des russischen Volkes zu stellen. Die Zukunft des Volkes sind die Kinder. Und auch wenn der Regisseur in Cannes sagte, er sehe sich nicht als Regime-Kritiker, drängt sich eine entsprechende Interpretation dieser Parabel recht aufdringlich in den Vordergrund. Der zwölfjährige Aljoscha scheint jedenfalls von allem Anfang an ein verlorenes Kind zu sein.