Rosie mit Aussicht und Umsturz

Endlich «Rosie» gesehen im Kinok - und dabei nicht nur einen fantastischen Film, sondern auch einige umwerfende Alt- und Neublicke auf St.Gallen gesehen.

Von  Marcel Elsener

Der Saal an einem Wochentag restlos ausverkauft  – ein hoch erfreulicher Erfolg für das Kinok und für Marcel Gislers doppeltes Comeback als Filmregisseur und als Wahlberliner mit Altstätter-St.Galler Wurzeln. Das Publikum, darunter verblüffend viele Silberfüchse, geht sicht- und hörbar mit in diesem wunderbaren Dialektfilm mit grossartigen Schauspielern und lebensechten Dialogen, die nie hölzern oder gar peinlich wirken wie leider in so vielen Schweizer Filmen (man erinnert sich mit Grausen etwa an «Vollmond»).

Lebensecht, beispielhaft anrührend, aber nie kitschig; das gilt überhaupt für diese toll erzählte Familiengeschichte, von A wie Alltag und Alter bis Z wie Zuneigung und Zwist, und für die schwulen Liebesszenen erst recht. Und dann die bezaubernden Schauplätze im filmisch unverbrauchten Rheintal und Appenzellerland, immer wieder kontrastiert mit Autobahnfahrten.

Genug geschwärmt. Aber dies noch, der eigentliche Grund dieses Eintrags: Stadtsanktgaller machen grosse Augen, wenn der Bruder die Schwester (mit ihrem griesgrämigen Tschugger-Gatten) in ihrer St.Galler Wohnung besucht: Hoch oben am Freudenberg geht Gislers Blick steil hinab in die Stadt, und aufs Bahnhofsquartier mit Fachhochschulturm, Wohnblöcken und Lokremise. Es ist eine Premiere und dürfte auch in Zukunft einzigartig bleiben: Man schaut im Kinok einen Spielfilm, in dem man quasi aufs Kinok schaut!

Ausfindig gemacht, nach etlichen anderen Besichtigungen rund um den Freudenberg, wurde die aussichtsreiche Wohnung von der Waldstätter Kamerafrau Verena Schoch – wie auch die anderen Drehorte, allen voran der reizvolle Hauptschauplatz, das «Balmerhaus» in Altstätten. Wen es wunder nimmt: Die Adresse lautet Schneebergstrasse 21, dort wohnt eine ehemalige Kantonsrätin (ihr Name wird im Nachspann verdankt).

Die zweite umwerfende Überraschung für reifere Gallenstädter betrifft die Requisitenabteilung und ist eine heimlifeiss-köstliche Referenz: Da ist doch das Zimmer des fürsorglichen Studenten mit «Umsturz»-Blättern behängt! Gemeint Felix Kälins und Wolfi Steigers legendäre situationistische A5-Untergrundzeitschrift von 1981, ein Lieblingsstück jüngerer St.Galler Kulturgeschichte. Die muss Gisler damals ebenso beeindruckt haben wie mich in Teenagerjahren. «Umsturz» eröffnete Felder von Marcel Duchamp bis John Cooper Clarke und gehört mit seiner kriminellen Kunstenergie bis heute in jeden Haushalt! Ist ja auch ein Staubsauger drin, und wenn ich mich nicht versehen habe, hängt im Filmzimmer nebst den Titelblättern auch Kälins Beizenfrass-Fotoserie «Speise ist Heimat» und eine Seite von H.R. Fricker. Wow, was für ein präziser «Heimatfilm»!

Das Kinok wird für seine sorgfältige «Rosie»-Begleitung samt Gisler-Retrospektive mit «full house» und begeisterten Besucherscharen belohnt. Und es verlängert «Rosie» um vier Juli-Nachmittagsdaten (10., 21., 24., 27. 7.). Nichts wie hin, mit Aussicht auf Umsturz!