Romeo röchelt unter der Maske
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Am Anfang der Schreck: Menschen! Nach und nach kommen sie aus ihren Homeoffice-Löchern, mit wackligen Knien, ängstlich der eine, munter die andere, panisch ein dritter. Ein Monolog, das ginge ja noch, aber jetzt soll angeblich ein Ensemblestück geprobt werden, Shakespeare, und erst noch mit Sänger, verfluchtes Mehrspartenhaus…
Dabei ist das Schutzkonzept des Theaters vorbildlich. In einer Plastikkiste ist alles da, Maske, Desinfektionsspray, Fiebermesser, Zollstock als das Zweimeter-Mass aller Dinge. Mobile Plexiglaswände stehen parat. Alle paar Minuten hornt die Sirene, dann wird alles stehen und liegen gelassen, man rennt zur persönlichen Verrichtungsbox am Rand der Bühne, wäscht Hände so lang wie «Happy Birthday» dauert, eis wo alli chönd.
Beim zweiten und dritten Mal wird das Reinigungsritual dann aber schon schludriger ausgeführt, und auch sonst geht es den Spielerinnen und Spielern oben auf der Bühne wie uns allen – Corona wirft erstmal alles über den Haufen, aber dann schleichen sich die Routinen wieder ein und es wird klar: Eigenheiten und Eitelkeiten sind immun gegen Viren aller Art.
Klamauk und Selbstironie
Die Pandemie ist eine Steilvorlage für Klamauk und Selbstironie. Die acht dem Homeoffice Entronnenen streiten sich als erstes um die Rollen – am Ende werben vier Romeos um vier Julias. Anja Tobler weigert sich, als Tybalt zu sterben, Mercutio Marcus Schäfer haucht seine Seele dafür umso publikumswirksamer in der Plexiglas-Quarantäne aus. David Maze bekommt seine Divenauftritte als Sänger und als Deklamator in Halskrause und melodiösem Shakespeare-English. Der Doppelmeter dient zum Fechten und zum Fächeln, der Reifrock hält Distanz, und auf dem Gipfel der Klassikerverulkung vergiftet sich Romeo mit Desinfektionsspray.
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«Ihr küsst recht nach der Kunst» – Fabian Müller und Anna Blumer proben Corona. (Bild: Michel Canonica)
«Ein Drücken / der zarten Hand soll meine Hand beglücken»: So wollte es der Dichter zu einer Zeit, als Händedruck noch kein epidemiologisches Problem war. Das verstiegene Pathos der historischen Shakespeare-Übersetzung kommt im St.Galler Stadtpark vollends unter die Räder. Julias Hände, Julias Küsse – alles, was Romeo reim- und wortreich anhimmelt, ist unter dem Distanzgebot von Corona noch unerreichbarer als im liebesfeindlichen Verona des 14. Jahrhunderts. «Ihr küsst recht nach der Kunst»: So scheppert Shakespeare an diesem Abend durchs Plexiglas.
Weitere Aufführungen: 4., 5. und 9. Juli, 20 Uhr, Arena im Stadtpark
Genutzt wird – wenigstens momentweise – die Anlage der Parkarena samt der Hausfassade. Zwei Balkone sind die ideale Kulisse für Corona-Verona, eine Julia verirrt sich gar aufs Dach, und die Nachtigall (oder wars doch die Lerche) glaubt man mit etwas Fantasie in den Bäumen des Stadtparks singen zu hören.
Coronaknorz ohne Tiefgang
Entwickelt wurde das Stück vom Leitungsteam (Barbara-David Brüesch, Patricia Flores, Jonas Knecht, Friederike Meisel, Julie Paucker, Stefan Späti) gemeinsam mit den Spielerinnen und Spielern: Matthias Albold, Anna Blumer, Diana Dengler, David Maze, Fabian Müller, Bruno Riedl, Marcus Schäfer und Anja Tobler. Ihr löblicher Vorsatz: «Nicht so zu tun, als wäre alles wie vorher».
Das ist es definitiv nicht. Munter kippt das Stück hin und her zwischen Shakespeare-Verschnitt und Corona-Alltag. Der Gipfel ist – unvermeidlich – eine Zoom-Sitzung. Thema: Mit wem darf mein Kind spielen, wie schütze ich meinen Asthmabuben vor den Nachbarsbengeln, wie geht man im Quartier mit dem Virus um? Natürlich eskaliert auch hier die Situation, das Publikum lässt sich anstecken und erkennt sich und seine lieben Nachbarn wieder.
Das ist die Qualität des Stücks: Es nimmt die Alltagsknörze auf, in die wir alle mit Corona geraten sind, und überlagert sie mit den Nöten des Theaters auf witzige Weise. Tiefer geht der rasch entstandene Abend nicht. Auch die Fragen, die zwischendurch mehr pro forma als ernsthaft ins Publikum geworfen werden, verpuffen im Abendhimmel. Die schönste: «Ist Ihnen die Welt fremder geworden?» Darauf hätte man gern eine Theaterantwort bekommen.
Und die Theaterfrage schlechthin? Die heisst seit dem Lockdown: «Braucht es uns noch?» Darauf gibt das Ensemble auf der Bühne eine trotz Maske unüberhörbare Antwort. Und erhält vom Publikum im Stadtpark ein lautstarkes Echo: «Ja!».