Rückzug ohne Eile
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«Da geht also einer, von dem mans schon gar nicht mehr geglaubt hat», witzelte letzten Sommer ein Freund im Café.
«Wer jetzt?»
«Der halt».
«Ach so, den meinst du.»
Wir sassen zur Gasse hin an hohen Fenstern. Draussen ging der, von dem er sprach. Es war RW.
Wie immer im gleichen, unverkennbaren, nie gehetzten, aber doch geschäftigen Schritt, den Blick geradeaus gerichtet, immer ein bisschen so, als würde er von einem unsichtbaren Faden ungefähr auf Stirnhöhe gezogen. Die Schultern – oder wars der Kopf? – leicht eingezogen. Das Jackett … nein, davon später.
Nicht, dass er, der Vorbeischreitende, und ich uns aus den folgenden Umständen jemals auf die Schultern geklopft, geschweige denn kumpelhaft zugezwinkert hätten, doch es gab und gibt sie und wird sie bis ans Ende seiner und meiner Tage geben – die zwei Gemeinsamkeiten: fast gleich alt, beide aus einfachen Verhältnissen stammend. Mit den «kleinen» Unterschieden, dass
a) er ein geborener St.Galler ist; ich hingegen eine vom scharf an der Kante sich teilenden ländlichen Röstigraben – sofern letzterer Begriff nun überhaupt noch zu den politisch korrekten zählt.
b) er ein Bub gewesen ist, ich, damals, an jener stockkatholischen Sprachfurche, ein Mädchen.
Nicht, dass wir überhaupt jemals eine private oder persönliche Konversation geführt hätten, es sei denn … doch davon später.
St.Galler Museumslandschaft im Dornröschenschlaf
Es muss ganz zu Beginn seiner sage und schreibe 33-jährigen Amtszeit gewesen sein, als ich Roland Wäspe zum ersten Mal begegnet bin. Ich war neu in St.Gallen. Neu in allem. Frisch verheiratet, aber immer noch pendelnd zwischen alter Zürcher WG und St.Galler Engelgasse und einer ersten Parkbusse auf dem schon damals diskutierten Marktplatz.
Zwischen Abschied vom Theater und dem neuen Studium klaffte in jede Richtung hin offene Zeit und ich sah die Chance gekommen, der zweiten meiner lebenslangen Leidenschaften, der Geologie, ein bisschen Zeit zu widmen. Nur wie? Den mir bis anhin unbekannten Alpstein abklopfen? Im Goldachtobel nach versteinerten Muscheln graben?
Ich klopfte mit Herzklopfen bei Hans Heierli an, damals noch Direktor des Naturmuseums. Er fand Gefallen an meiner privaten Klumpensammlerei und nahm mich mit ins Archiv. Dort sollte ich fortan ordnen, was es zu ordnen gab: meterlange Vitrinen voller Gesteinsproben, verstaubt und un leserlich beschriftet.
Das Naturmuseum, fast hat man es schon vergessen, war damals ein Teil des Kunstmuseums. Man teilte sich die Räume, die Archive, alles war eng und auf den Umstand zurückzuführen, dass die St.Galler Museumslandschaft lange Jahre einen Dornröschenschlaf geschlafen hatte. Erst 1987, also zwei Jahre, bevor Roland Wäspe Leiter des Kunstmuseums werden sollte, war der seit 1970 geschlossene Kunklerbau nach einer mehrere Jahre dauernden Gesamtsanierung wiedereröffnet worden.
Dazwischen lag eine lange Durststrecke der künstlerischen Abstinenz. Das zeitgenössische Genre war bis auf kleine Nischenprojekte inexistent – bis 1985 von regionalen Kunstschaffenden an der Wassergasse die erste Kunsthalle gegründet wurde, deren Leiter der Künstler Josef Felix Müller war. Auf ihn folgte, bereits am neuen Standort an der Davidstrasse, die später am Haus Konstruktiv in Zürich sehr erfolgreiche Kuratorin Dorothea Strauss. In St.Gallen war sie ihrerseits abgelöst worden von Roland Wäspes Nachfolger am Kunstmuseum: Gianni Jetzer. Er leitete die Kunsthalle fünf Jahre und wurde 2006 nach New York berufen, um dort das Swiss Institute / Contemporary Art zu leiten.
Im unterirdischen Archiv bildeten ausgestopftes Grosswild, schrumpelige Reptilien, starr dreinblickendes Federvieh und Skelette eine etwas unheimliche Kulisse, begleitet von nicht auszumachenden Geräuschen aus allen Ecken.
Gneise und Quarzite, basische Magmatite, Kristalle und natürlich auch öppe ein Granit – ich musste untersuchen und Zettelchen befestigen, wo ich was zu unterscheiden meinte. Das Licht war schummrig, schattenhafte Umrisse und blitzende Augenpaare schienen nur darauf zu warten, Frischfleisch zwischen den Zähnen zu zerfetzen. Zuweilen waren da Schritte von Menschen, welche die labyrinthisch anmutenden Räumlichkeiten durchquerten, Türen wurden geöffnet und wieder geschlossen. Ein Schleifen. Ein Poltern. Manchmal auch ein Fluch.
Nie blieb jemand stehen oder fragte, was ich dort mache.
Die ganze Belegschaft von Kunst- und Naturmuseum versammelte sich jeweils zu Znüni- und Zvieripausen. Kann sein, dass ich dort an diesem Tisch aufhorchte, als der Name Richard Long fiel. 1989, im Jahr von Roland Wäspes Einstand, war der von mir hochverehrte englische Land-Art-Künstler im Kunstmuseum zu Gast gewesen. Meine Achtung vor dem Neuen stieg.
Mit stoischer Ruhe und klarem Kompass
Es vergingen dann Jahre, bis wir uns wieder begegneten. In der Zwischenzeit war ich Teil des Teams, welches journalistisch die städtische und regionale Kunst- und Kulturszene bei der einzigen noch verbliebenen Tageszeitung betreute. In dieser Funktion und später auch als Mitglied der städtischen Kulturkommission hatte ich öfter auch mit den freien Kulturschaffenden aller Sparten zu tun. Zwischen der Sparte der freien bildenden Kunst und dem grossen, hoch subventionierten Haus gab es nicht nur Gutes zu besprechen. Es gab Interessenkonflikte. Man fand, die Ausrichtung des Kunstmuseums sei zu elitär, zu abgehoben. Die örtliche Szene werde zu wenig berücksichtigt. Dem Leiter wurden Arroganz und Ignoranz vorgeworfen. Standardforderungen waren jene nach mehr Austausch, nach offeneren Plattformen, nach mehr Wertschätzung für das Ostschweizer Kunstschaffen.
Roland Wäspe, unbeirrt, über ein Vierteljahrhundert mit Konrad Bitterli an seiner Seite, holte sich mit seiner Ausrichtung Anerkennung. St.Gallen war mit seinem Programm, der internationalen Ausrichtung, den erweiterten Sammelbeständen plötzlich wieder ein Thema auch in den überregionalen Medien. Ostschweizer:innen wie Roman Signer, Pipilotti Rist oder Manon bespielten das Haus genauso wie Andy Warhol, On Kawara, Nam June Paik, Bethan Huws, Erwin Wurm, Karin Sander und zahlreiche andere. Auch der Auf- und Ausbau der Kunstzone in der Lokremise ist sein Verdienst.
Er hatte den Job im Alter von gerade mal 32 Jahren – ohne Führungs- und Leitungserfahrung – von seinem Vorgänger Rudolf Hanhart übernommen, dessen «Deputy» er gewesen war. Manchen hatte seine Wahl ein irritiertes Kopfschütteln entlockt. Da waren andere Bewerbende gewesen. Koryphäen der Kunst- und Kulturgeschichte. Wäspe brauchte eine dicke Haut nach innen und aussen.
Nebst des Kuratoriums musste ein ständig wachsendes Team von Mitarbeitenden geführt werden. Bezüglich leistungsgebundener Subventionen der öffentlichen Hand und Sponsoren, bei Ankäufen und – nicht in jedem Fall willkommenen – Schenkungen, Ankäufen oder Leihgaben, dem Austausch mit kooperierenden Häusern, Kunstschaffenden und dem Kunstverein sind Verhandlungsgeschick und Diplomatie gefragt.
Der Direktor erfüllte die Aufgaben anscheinend mit stoischer Ruhe, unbeeindruckt vom Ruf nach meh Dräck, sprich nach mehr – auch für das gemeine Fussvolk verständlichem – kunstspezifischem Aufbegehren gegen die jammervollen Weltzustände. Stets aufgeräumt wie die Räume, die er leitete, ohne jegliche Aufregung, ohne Skandale, Provokationen, unbestechlich; mit Pflichtgefühl, Diskretion und Disziplin, klug agierend zwischen den verschiedenen Interessenvertretenden – ohne Risiko, aber mit feinem Gespür für Ästhetik und Strömungen in der zeitgenössischen Kunst. Die «Kunstblase» von innen und aussen betrachtend, aber ohne hineinzustechen. Die Werbevideos zu neuen Ausstellungen hatten teilweise den Charme eines Daunen-Waschsalon-Besitzers.
Manche nannten ihn einen Sesselkleber. Gut möglich, dass er, wie Konrad Bitterli, heute Leiter des Kunstmuseums Winterthur, einen Absprung gewünscht, versucht hat. Gut möglich, dass es irgendwann zu spät war – und mit der Erfahrung einer ersten und einzigen Museumsleitung nicht reichte für einen Wechsel. Gut möglich, dass es für die Umstände, wie sie St.Gallen vor über dreissig Jahren bot, einen brauchte, der einen langen Atem hatte und nicht einknickte ob den Neustrukturierungen, den Leuchtturm-Utopien. Gut möglich, dass er mit seinem Lebensjob ganz zufrieden war.
Gemeinsam auf den Wasserturm
Mein Büro lag präzis an der Ecke Oberer Graben und Poststrasse, also an der Achse zwischen Museumsstrasse und Hauptbahnhof.
An der Ampel direkt unter den ost- und südwärts gerichteten Fenstern, für Fussgänger:innen gefühlt hundert Jahre auf Rot, steht Roland Wäspe. Es ist Sommer. Sein Jackett trägt er mit halb ausgestrecktem Arm am gefalteten Kragen vor sich her. Als trüge er ein Taufkleid. Oder eine Monstranz. Auf jeden Fall etwas mit Sorgfalt zu Tragendes.
Diese Geste, wiederholt beobachtet, schien mir sinnbildlich für diesen Menschen. Es gab da Raum zwischen dem distinguierten «Er» und den Dingen. Diesen Raum könnte man Ehrfurcht nennen. So kam es mir vor. Dass seine Distanz, die Unnahbarkeit, auch Platz liessen für Ehrfurcht. Das konnte man erleben, wenn man ihn über Alte Meister sprechen hörte. Oder über Licht. Oder über: Christoph Büchel. Der heute international gefeierte, aus der Ostschweiz stammende Künstler hatte vor zehn Jahren gleichzeitig mit der Ausstellungseröffnung im Kunstmuseum von «Home! Sweet Home!» die länger geschlossen gewesene Rauminstallation The House of Friction (Pumpwerk Heimat) im Wasserturm bei der Lokremise wiedereröffnet. Es galt also, die Eröffnung im Kulturteil der Zeitung zu besprechen.
Die Rauminstallation war auf Initiative der Galeristen Hauser und Wirth entstanden, welche damals das brachliegende «Lokomotivdepot» bespielten. Als sie 2004 nach Zürich weiterzogen, blieb Büchels Arbeit zurück und fortan in Besitz des Künstlers und der Galerie. Vier Jahre später wurde bei einer Volksabstimmung der 23-Millionen-Kredit bewilligt für die Sanierung des Depots; 2010 erwarb der Kanton die Installation. Sie hatte gelitten. Nicht nur Tauben, auch Nachtbuben hatten sich eingenistet. Infolge von Bohrungen hatte es in dem von Robert Maillard 1906 entworfenen Turm Wasserschäden gegeben. Christoph Büchel nahm die «Bescherung» als Zeichen der Zeit, beliess die Hinterlassenschaften als Quasi-Fortsetzung seiner Erzählung. Der gesamte Turm wurde desinfiziert und dem geneigten Publikum zugänglich gemacht.
Nun, wie über etwas sprechen, das man nur von aussen, in diesem Fall also überhaupt nicht kennt. Weil klaustrophobische Ängste weit ausgeprägter sind als die blosse Neugier. Doch der Versuch kitzelte mich trotz des platzängstlichen Würgens, welches mich schon beim blossen Gedanken an eine Begehung – hier eher eine «Berutschung» – überfiel. Sollte doch dieser immer so fein säuberlich gebügelte Museumschef mir mal selber zeigen, wie das dort in diesem Messieturm aussieht. In der festen Überzeugung, dass er ablehnen und ich elegant aus der Zwickmühle sein würde, schlug ich ihm mein Ansinnen vor.
Dann stand er da. Mit diesem Schalk und gleichzeitig dieser Ernsthaftigkeit im Blick, mit diesem adrett vor sich hergehaltenen Kittel.
«Gehen wir!»
«Ich komme nicht mit.»
«Wie jetzt?»
«Ich traue mich nicht.» Mich überfiel Panik und gleichzeitig schöpfte ich Mut aus diesem unaufdringlichen Raunen in der Stimme, das bei ihm immer ein bisschen wie trocknendes Heu klang.
Wir quetschten uns in diesen beengenden Schlauch. Balancierten über Taubenschiss, kletterten über Zerlumptes, Verklebtes, Ungewaschenes. Berührten Eiseskälte. Landeten schliesslich – ich schweissgebadet, der Direktor, als ob er gerade eine Yogastunde hinter sich hätte – auf den Autositzen des berühmten Opel Manta. Wir traten hinaus, blinzelten in die Sonne. Roland Wäspe zog sein Jackett glatt und lachte. So hatte ich ihn in all den Jahren nie lachen gehört.