Rein in die Bubble
Für ein Newsportal habe ich mal mit dem Präsidenten vom «Marsch fürs Läbe» über Homosexualität diskutiert, vor laufender Kamera. Ein Typ um die 50 im Strickjäggli, braver Haarschnitt, Brille. Im Gesicht ein sanftes Schmunzeln ohne Ende. Er hat kein einziges Mal ernst geguckt. Nicht mal, als die Kamera aus war. Er hat immer von oben herab auf mich runtergeschmunzelt.
Ich bin gay von Beruf, und er ist ein evangelikaler Fundamentalist. Man könnte also meinen, ich sei gefasst gewesen: auf Bibelzitate, auf Gemeinheiten, auf miserable Argumente. Aber nicht darauf: dieses sanfte herablassende Schmunzeln. Und dazu der eine Satz: «Homosexualität ist ein Fehlverhalten. Und Fehlverhalten kann man korrigieren. Unbedingt.»
In den Tagen nach dieser Diskussion war ich nicht sicher, ob meine Teilnahme richtig gewesen war. Wenn man einen hochgradigen Homohasser und eine aktivistische Bisexuelle einlädt: Was sendet das für ein Signal aus? Dass das die beiden Enden des Spektrums sind?
Wenn ja: Was wäre denn eine mittige Position, ein Kompromiss? Homos nur ein bisschen hassen? Was ist die Mitte zwischen rechten Menschen und Menschenrechten?
Noch wochenlang stellte ich mir diese Fragen. Aber noch viel länger plagte mich dieser Satz. Fehlverhalten muss man korrigieren. Was für eine gewaltvolle Behauptung. Sie fühlte sich an wie ein Würgegriff. – Fühlt. Meine Beklemmung hat noch nicht nachgelassen. Das Video ist eineinhalb Jahre her.
Letztens sah ich mir The Social Dilemma an, diese Quasi-Dokumentation über Soziale Medien. Darin wird ein Phänomen aufgezeigt, von dem eh schon jahrelang alle reden: die soziale Bubble, also die Filterblase.
Saiten hat sich zum Jahresschluss ein Heft zur Immunstärkung vorgenommen. Wir wollten Anregungen und Überlegungen aller Art zur politischen, gesellschaftlichen und individuellen Kräftigung des Immunsystems sammeln.
Zusammengekommen sind 24 Beiträge aus allen möglichen Richtungen, ein Adventskalender der resistenten Art: Kurzgeschichten, Selbsterfahrungen, Appelle, Wutausbrüche, Tiefgang und Smalltalk, Rezepte und Rezeptverweigerungen. 24 Stimmen, 24 Seiten, eine geballte Dosis Immunium® Akut, garantiert mit Risiken und Nebenwirkungen.
Aufgrund unserer Internet-Historie werden uns nur Informationen angezeigt, denen wir zustimmen. Eine Abwandlung davon kriege ich auch offline zu hören: Das ist doch nicht gut, wenn du dich immer nur mit deinesgleichen umgibst! Du lernst ja nichts dazu, wenn du anderen Haltungen nie begegnest! Leave your comfort zone!
Das Seltsame ist, dass sich da alle einig scheinen. Irgendwann entstand einfach der Konsens, die Bubble sei was Schlechtes, Ungesundes, Einfältiges. Als dieser Konsens gefällt wurde, war ich wohl gerade weg. Vielleicht an einem Videodreh mit einem schmunzelnden Homohasser.
Ich bin so, so irritiert über diese Haltung. Weil sie stets so allgemein geäussert wird: Raus aus der Bubble, tausch dich mehr mit Leuten aus, die nicht deiner Meinung sind! Das klingt immer so, als wäre das alles symmetrisch. Als befänden wir uns in einem schalltoten Raum, wo einfach beide Personen ihre Haltung deponieren und diejenige des anderen gechillt betrachten.
Aber so ist es nicht.
Einem rechten Menschen zu sagen, dass ich ein Leben in Würde verdient habe, wird nicht viel machen mit ihm. Wenn mir mein Gegenüber sagt, dass ich kein Leben in Würde verdient habe, ist das anders.
Macht ist nicht symmetrisch. Gewalt auch nicht.
Wenn dir das nächste Mal jemand sagt, du sollst aus deiner Bubble raus, weil das gesund sei, tu deinem sozialen Immunsystem einen Gefallen und scheiss auf die Empfehlung.
Unsere Bubbles stärken uns. Geben Sicherheit. Und sie sagen uns nicht schmunzelnd, wir müssten korrigiert werden.
Rein in die Bubble.
Anna Rosenwasser, 1990, ist freie Journalistin und arbeitet für die Lesbenorganisation Schweiz LOS. Sie ist in Schaffhausen aufgewachsen. Und schreibt bei Saiten die Kolumne «Nebenbei gay».