Der Tanz ist eine Kunstform, bei der wohl wie in kaum einer anderen der Körper exponiert ist. Unser Körper ist gleichzeitig Indikator für den Alterungsprozess, den Verfall. Auch die Beweglichkeit lässt im Alter nach oder verändert sich.
Renee Schmalz ist 67 Jahre alt und tanzt und performt seit 55 Jahren. Auf der Suche nach der Essenz des Lebens kam Schmalz gemeinsam mit Duo-Partnerin Gabriella Gombas die Idee für das im Herbst erschienene Buch Fruits of Life. «Es soll eine andere Sichtweise auf das Tanzgeschehen werfen, wo sonst wie kaum woanders die Jugend gefeiert wird», sagt Schmalz. Schmalz hat sich zeitlebens mit dem Non-Binären im Tanz beschäftigt und sich glücklich geschätzt, die Reife des Alters erlangen zu können.
Mit der Frage, ob es andere Tänzer:innen gibt, die sich mit dem Altern beschäftigen, stiess Schmalz auf 17 Tänzer:innen und fünf Autor:innen aus der Schweiz, Deutschland, den Niederlanden und Österreich, die im Buch-Band zusammengeführt sind. Sie alle erhielten von den Herausgeber:innen Schmalz und Gombas eine Carte blanche, um sich dem Phänomen ganz individuell anzunähern.
Die Klarheit aus der Lebenserfahrung
Das Ergebnis ist ein bildlich und sprachlich poetisches Werk mit ebenso experimentierfreudigen wie berührenden, aber auch tanztheoretischen Beiträgen, die sich auf unterschiedlichste Weise mit dem alternden Körper auseinandersetzen. Stirb und werde heisst das Kapitel von Gabriella Gombas, die mit Fotografie und Stimmlandschaften arbeitet. Sie entdeckt im Alter die Fähigkeit, sich auf das Wesentliche konzentrieren zu können: «Es sind die Früchte des Lebens, die wir pflücken können.» Sie vergleicht das Alter mit den Träumen der Nacht, mit denen wir das Tagesgeschehen entschlüsseln können. Licht bedinge Dunkelheit, und in der Dunkelheit der Nacht liegt eine andere Wahrheit, lautet Gombas’ reife Erkenntnis. Ihre Fotoserie gleicht einem Totentanz in der Disco, mit Schwarzlicht und Glitzer.
Mit einer Fotoreihe zum alternden Körper ist unter anderem auch das Schweizer Tanzkollektiv Dance me to the end vertreten, welches zu Tanz und Alter forscht. Wilma Vesseur ist Tänzerin und Perfomerin aus Trogen, die sich mit dem Nicht-Dauerhaften und der Liminalität, dem Schwellenzustand, befasst. Mit der Fotoreihe Falten & Rimpels bringt sie den gealterten Körper mit all seine Falten und Flecken zurück in die Natur. Flusssteine und gewundene Baumwurzeln bekommen etwas Organisches, eine embryoähnliche Farnknopse wird einer rosigen Brustwarze gegenübergestellt.
Aufbrechen überholter Konventionen
Die Konstanzer Autorin Veronika Fischer schafft es in poetischer Prosa, Gefühle aufleben zu lassen, die in uns aufkommen, wenn wir über uns als Individuum und uns nahestehenden Menschen in Konfrontation mit dem Tod nachdenken: «Lass UNS zusammen alt werden, flüsterst du, und ich frage mich noch immer, was du damit meintest … Die Verschmelzung der Körper von Zeit zu Zeit, jedes Mal ein wenig mehr.»
Johannes Lothar Schröder schreibt in seinem Essay In eine neue Zeit getanzt über die Tabuisierung und Enttabuisierung von Lebensalter. Darin zeigt er auf, wie sich Pina Bausch und Kurt Joos für einen selbstbestimmten Körper im postmodernen Tanz einsetzten, der sich unabhängig von Vorgaben der Institutionen und Erwartungen des Publikums entwickelt.
Obwohl im Projekt Fruits of Life alle Künstler:innen einen anderen Ansatz wählen, bilden sie meist das Älterwerden als ein Heimkommen ab, «was für jeden etwas anderes bedeuten kann», ergänzt Gabriella Gombas. «Eine Sehnsucht des Individuums nach Verbundenheit», erkennt Renee Schmalz in den Inszenierungen, Fotografien und Texten.
Das Künstler:innen-Duo Schmalz/Gombas lebt und arbeitet in Tägerwilen und Gottlieben im Thurgau. Buchvernissage und ein erster Tanzzyklus gingen bereits im Herbst über die Bühne. Der Tanzzyklus 2 wird im Februar in der Lokremise in St.Gallen gezeigt. Tänzer:innen, die das Buch mitgestaltet haben, werden je drei Positionen pro Tag zum Thema Alter tanzen und noch einmal eine andere Perspektive auf das Buch eröffnen. In der Lokremise entsteht an den Probetagen zudem eine Videoinszenierung.
Schmalz/Gombas: Fruits of Life, edition ABCDEFGHIJKLMNOPQRSTUVWXYZ Domäne Wissenschaft & Schöne Künste, Diessenhofen 2024.
Tanzzyklus 2: 22. Februar, 19.30 Uhr, und 23. Februar, 13.30 Uhr, Lokremise St.Gallen.