Raus aus der Erklärungsnot
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Was müssen Tourist:innen, Neuzugezogene oder Familiengäste unbedingt gesehen haben in St.Gallen? Hört man sich um, kommen immer etwa dieselben Tipps in Sachen Kultur: Textilmuseum, Stiftsbezirk, Kunstmuseum, Lokremise. Vielleicht noch die Kunst Halle an der Davidstrasse, wenn es etwas progressiver sein soll. Dass mit dem Museum im Lagerhaus gleich daneben eine Institution zuhause ist, die nicht weniger internationale Ausstrahlung hat und in ihrer Ausrichtung weitherum einzigartig ist, geht gern vergessen.
Das liegt zum Teil auch am Fokus des Museums: Naive Kunst, Art Brut und Outsider Art. Hier werden Werke von Künstler:innen gezeigt, die kaum (oder erst lange nach ihrem Tod) Eingang in den Kunstkanon finden, die etablierte Kunstkategorien unterlaufen. Es sind Werke von sogenannten Aussenseiter:innen, von Autodidakt:innen, von Menschen mit psychischen oder körperlichen Beeinträchtigungen. Hier hängen keine Karrierebiografien im Infoblock – wer hat wo studiert, bei welcher Koryphäe gelernt? –, hier stehen Lebensbiografien im Zentrum, und ja, manchmal auch Krankheitsbiografien. Das mag (noch) nicht unbedingt welterbe-tauglich sein, ist dafür aber umso reizvoller, weil es Seh- und Denkgewohnheiten herausfordert.
Kunst ohne Grenzen
Gegründet wurde das Museum im Lagerhaus 1988. Trägerschaft ist die Stiftung für Schweizerische Naive Kunst und Art Brut. In diesen 35 Jahren hat sich einiges getan. Zwanzig Jahre lang wurde das Museum ehrenamtlich geleitet und aufgebaut, seit 2008 ist mit Monika Jagfeld eine professionell tätige Museumsleiterin und Kuratorin am Ruder. Die Räume wurden saniert, eine Museumsdatenbank wurden auf- und die Lagerräume ausgebaut, das internationale Netzwerk wurde erweitert, die Digitalisierung in Angriff genommen und so weiter. Aber das Profil – zumindest in der Aussenwahrnehmung – blieb etwas schwammig.
«Museum im Lagerhaus: Das sagt nichts aus, löst nichts aus», sagt Museumsleiterin und Kuratorin Monika Jagfeld am Montag an der Medienorientierung zum neuen Namen und dem neuen Erscheinungsbild, das in Zusammenarbeit mit der Agentur Alltag und Antje Gracia entwickelt wurde. Der neue Name «open art museum» mit der Subline «zentrum für outsider kunst» soll das Bild gegen aussen nun schärfen, das Museum und seine Sammlung markanter positionieren. So komme man «raus aus der Erklärungsnot».
Mit dem neuen Museumsnamen wolle man nicht die Kunst darin definieren, sondern die Plattform bzw. deren Haltung: «Das open art museum ist ein offener Ort für eine Kunst ohne Grenzen, für eine expressivere Welt», so die Vision. Der Begriff «outsider» beziehe sich zudem nicht auf die Person des Aussenseiters, erklärt Jagfeld, sondern stehe vielmehr für ein Kunstverständnis abseits, also «outside» der etablierten Kategorien.
Hinter der neuen Corporate Identity steht ein 2020 angestossener «Strategieprozess zur Identitätsfindung und Markenorientierung», erläutert Stiftungspräsident Thomas Scheitlin. Anlass dazu gab nicht zuletzt auch die Coronakrise, die zu einer Kulturkrise geworden sei. Der Prozess sei «ein zwingend nötiger Entwicklungsschritt» gewesen. Die Bedeutung des Museums für die Region sei in den 35 Jahren seines Bestehens stetig gewachsen, auch über die Landesgrenzen hinaus, zudem müsse man sich den Anforderungen der Zukunft anpassen. Diesen Entwicklungen wolle man Rechnung tragen, auch mit weiteren Schritten: 2023 startet das Museum unter anderem ein digitales Transformationsprojekt, ausserdem unterzieht es sich einem professionell begleiteten Diversitätsprozess auf allen Ebenen.
Kunst von Frauen aus dem Iran und der Ukraine
Und was zeigt es? Nach der Ausstellung zu Lene Marie Fossen (noch bis 26. Februar, mehr dazu hier) folgt mit «Outsider Art unter dem Halbmond» der letzte Teil der Trilogie «das andere in der Kunst». 25 Künstler:innen mehrheitlich aus dem Iran und aus Marokko sowie aus Syrien und der Türkei werden gezeigt. Jagfeld erhofft sich davon eine «Reflexion über unser eurozentristisch geprägtes Kunstverständnis». Ein Schwerpunkt ist der iranischen Künstlerin Samaneh Atef (*1989) gewidmet. Sie musste 2020 wegen ihrer Kunst und ihren Darstellungen von Frauen aus dem Iran fliehen und lebt heute in Lyon.
Ergänzt wird die Schau mit einer Dialogausstellung zu Peter Wirz (1915–2000). Er erschuf mit unzähligen Skizzen und Aufzeichnungen seinen eigenen Kontinent namens Wirziana, durchdrungen von Heiligenbildern, abendländischer Heraldik und Militärverweisen.
Weitere Informationen:
openartmuseum.ch
Nach den Sommerferien geht es ebenso aktuell weiter: «Die Bestie des Krieges» zeigt Naive Kunst aus der Ukraine – ein Zeichen der Solidarität, aber auch eine Einladung an geflüchtete Ukrainer:innen. Der Titel der Ausstellung ist gleichzeitig der Name eines Werks von Maria Prymachenko (1909–1997), einer Ikone der Naiven Kunst in der Ukraine. Das Museum in Iwankiw, das viele ihrer Arbeiten beherbergt hat, wurde im März 2022 von russischen Truppen zerstört. Ein Teil davon konnte gerettet werden. Dank der Hilfe einer Privatperson gelangen für die Ausstellung im open art museum weitere Werke nach St.Gallen – sofern alles klappt.
Im September ist eine Ausstellung zu kollektiv und divers arbeitenden Kunstateliers geplant: «lumbung brut». Der Begriff, angelehnt an die documenta 15, kommt aus dem indonesischen und meint eine Reisscheune, in der Reisreste für die Allgemeinheit gesammelt und geteilt werden. Offene Kunstateliers fungieren oft als ähnliche «Sammelbecken», da die etablierten Betriebe gerade für Kunstschaffende mit verschiedenen Beeinträchtigungen keine Kapazitäten bereitstellen wollen. Also organisieren sie sich selber, um ihre Potenziale zu nutzen. Was daraus entstehen kann, zeigt das open art museum in Zusammenarbeit mit diversen Schweizer Künstler:innen.