, 17. November 2022
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Rau will St.Galler Schepenese zurückgeben

Milo Rau will die St.Galler Mumie aus der Stiftsbibliothek «befreien» und dafür seinen St.Galler Kulturpreis spenden. Heute lanciert er seine «St.Galler Erklärung für Schepenese». Schepenese ist allerdings eine Mumie unter vielen – und die Stiftsbibliothek wehrt sich schon mal gegen die Idee.

Die Mumie der Schepenese, Illustration aus Johann Jakob Bernets Geschichtlichen Unterhaltungen von 1829.

Im Mai 1998 prangt der ausgetrocknete Kopf der Schepenese auf dem Titelblatt von Saiten. Anlass ist die Publikation des Buchs Schepenese. Die ägyptische Mumie der Stiftsbibliothek St.Gallen von Peter Müller, Renate Siegmann und Cornel Dora. Die Redaktion verknüpft das Bild der Toten augenzwinkernd mit dem eigentlichen Titelthema des Hefts: der behaupteten Grabesruhe in der St.Galler Rockszene. Mumien eignen sich bekanntlich für Symbolik aller Art.

Der St.Galler Theatermacher Milo Rau hat allerdings mehr als Symbolik im Sinn. Er will, wie es seinem Verständnis von Kunst als Aktion entspricht (mehr dazu hier), handeln. «Lasst Schepenese heimkehren!» heisst es in der «St.Galler Erklärung für Schepenese», die Rau zusammen mit einem Komitee aus Anlass der Verleihung des Kulturpreises der St.Gallischen Kulturstiftung am heutigen 17. November lanciert – an einer Aktion am Nachmittag auf dem Gallusplatz, einem Podium und der Kulturpreisverleihung am Abend.

Zur Schau gestellt

Schepenese war eine um 700 bis 650 vor Christus lebende ägyptische Priesterstochter. Ihr einbalsamierter Körper samt Doppelsarg wurde nach Raus Darstellung von Grabräubern gestohlen, nach Paris verkauft und kam über einen Kaufmann 1820 als Geschenk an den St.Galler Landammann Karl Müller-Friedberg. Seither wird sie, mit ausgewickeltem Gesicht und Oberkörper, in der Stiftsbibliothek ausgestellt und gilt als eine der Touristenattraktionen der Stadt.

Für diese sei die Mumie aber kein Ruhmesblatt. «Die fragwürdige Zurschaustellung ist einer Kulturmetropole wie St.Gallen unwürdig», sagt Rau. Deshalb investiere er sein Preisgeld von 30’000 Franken, um eine Rückführung möglich zu machen. «Schepenese muss befreit werden.»

Die «St.Galler Erklärung» argumentiert zum einen ethisch. Die rituelle Einbalsamierung und Bestattung sei im alten Ägypten Voraussetzung dafür gewesen, dass die Seelen Verstorbener nach dem Tod ihre Reise ins Jenseits bestehen konnten. Sie auszustellen sei gleichbedeutend mit deren Verdammnis und ein Bruch mit den Tabus der Totenbestattung.

Zum andern wird die Forderung juristisch begründet, mit Bezug auf die zahlreichen Debatten um die Restitution unrechtmässig erworbener altägyptischer Denkmäler weltweit. Zwar sei Schepenese nach damaligem Recht legal nach St.Gallen gekommen – aber «am Anfang der Kette steht der Grabraub».

«Der Glaube alter Kulturen ist kein Gruselkabinett»

Mit der Rückgabe soll St.Gallen, seinem eigenen, Unesco-gelabelten kulturellen Anspruch entsprechend, zum «Beispiel für die Welt» werden für einen fairen, respektvollen und innovativen Umgang der Kulturen miteinander. Der «räuberische und respektlose, zumindest aber gedankenlose Zustand» sei der Kulturmetropole St.Gallen unwürdig.

Die Zurschaustellung der nackten Mumie überziehe den St.Galler Stiftsbezirk «seit bald 200 Jahren mit dem Ungeist des Kulturraubs und der Ignoranz. Ein klassischer Akt der Tempelreinigung ist angebracht. Die Toten sind kein Kapital, der Glaube alter Kulturen ist kein Gruselkabinett. Die Ausbeutung und Plünderung Ägyptens und vieler weiterer Kolonien, an der bedauerlicherweise auch die Schweiz beteiligt war und weiterhin ist, kann durch ein anderes, beiden Hochkulturen angemessenes Verhalten verändert werden.»

Innensarg der Schepenese. Aus: Schepenese – Die ägyptische Mumie der Stiftsbibliothek St.Gallen. Verlag am Klosterhof, St.Gallen 1998

Dem Komitee um Rau gehören die ägyptische Filmemacherin Rabelle Erian und die ägyptische Archäologie-Professorin Monica Hanna sowie der St.Galler Theologe Rolf Bossart an. Es arbeitet mit der Arab Academy for Science, Technology & Maritime Transport in Assuan zusammen. Unterstützt wird es von einem prominenten Kreis von Erstunterzeichner:innen, darunter Adolf Muschg, Sibylle Berg, Bénédicte Savoy, Gesine Krüger, Peter Stamm, Jean Ziegler, Paul Rechsteiner oder Kim de l’Horizon.

Nicht der erste Versuch

Es ist nicht das erste Mal, dass über die Mumie und ihren Standort diskutiert wird. Zwei Vorgänger des heutigen Stiftsbibliothekars, Johannes Duft und Peter Ochsenbein, fanden die Mumie im barocken Prachtssaal am falschen Ort; Duft habe, wie Peter Müller 1998 in Saiten berichtet, über die «Mumien-Nummer» gespottet. Der katholische Konfessionsteil als Besitzer wollte Schepenese aber nicht hergeben – sie war schon im 19. Jahrhundert zum eigentlichen Publikumsmagneten der Bibliothek aufgestiegen und blieb es bis heute.

2010 gab es erneut den Versuch, sie umzuplatzieren, nachdem Schepenese ein Gastspiel im Historischen und Völkerkundemuseum St.Gallen gab, als Hauptattraktion der dortigen Ausstellung «Im Banne Ägyptens». Museumsdirektor Daniel Studer hätte die Mumie danach gern behalten, Stiftsbibliothekar Cornel Dora hatte dafür jedoch kein Musikgehör. Im Schepenese-Buch von 1998 argumentiert Dora damit, dass die meisten Bibliotheken der Barockzeit nicht nur Bücher, sondern auch Kuriositäten und Raritäten aller Art sammelten – die Mumie sei daher «kein Fremdkörper», sondern ein Zeuge der Wissenschaftsgeschichte.

Das sieht Schepenese selber anders – zumindest in der humoristischen Kurzgeschichte Schepeneses Flucht aus der Stiftsbibliothek des St.Galler Autors Peter Rechsteiner, 2002 im gleichnamigen Buch erschienen. Die Mumie fleht dort den Hauswart der Bibliothek an, sie endlich vom Lärm, dem Angestarrtwerden und den wissenschaftlichen Untersuchungen zu befreien und zu beerdigen. So könne sie ihr ewiges Leben nie finden. «Ich gehöre in meine beiden Särge und in ein grosses Grab, wo man mich in Ruhe lässt – für immer.»

Der Hauswart bringt sie tatsächlich weg, scheitert aber beim Versuch, sie in seinem Keller zu begraben, und Schepenese findet sich mit ihrem Schicksal als Ausstellungsobjekt ab.

Die Stiftsbibliothek wehrt sich

Ernsthaft stellen sich zwei Fragen. Zum einen: Ist St.Gallen bereit, Schepenese nach Ägypten zurückzuführen? Und zum andern: Wäre Ägypten überhaupt gewillt, sie zurückzunehmen?

Für ersteres gibt es schon mal eine Antwort. Auf die Ankündigung der «St.Galler Erklärung» hat Stiftsbibliothekar Cornel Dora am Mittwoch seinerseits mit einer Stellungnahme reagiert. Er weist darin auf eine Reihe von sachlichen Ungenauigkeiten in der St.Galler Erklärung hin: So sei nicht erwiesen, dass die Mumie aus dem Grab geraubt wurde; sie werde nicht nackt, sondern nur bis zu den Schultern freigelegt gezeigt, und Müller-Friedberg habe sie mutmasslich gekauft, nicht geschenkt gekriegt.

Von «Unrecht» könne juristisch nicht die Rede sein, ebensowenig von «Plünderungen» oder «Ausbeutung», schreibt Dora. Vielmehr sei die Wiederentdeckung der altägyptischen Kultur dem europäischen Interesse zu verdanken, während das islamische Ägypten selber mit seinen «Altertümern» verständnislos und zerstörerisch umgegangen sei.

Darüberhinaus werde Schepenese in der Stiftsbibliothek respektvoll und würdig behandelt gemäss «gängigen musealen Konzepten in Bezug auf die Aussellung sterblicher Überreste von Menschen». Die Bibliothek sei «das schönste Mausoleum, das man sich denken kann», und ein Ort des Gedenkens, wie es für die ägyptischen Jenseitsvorstellungen zentral sei.

Unterstützung erhält die Stiftsbibliothek durch die Ägyptologinnen des Swiss Coffin Projects: Sie halten nichts von einem einstündigen Kurzpodium, wie es heute in St.Gallen stattfindet, sondern schlagen eine Tagung vor, an der die komplexen Fragen von Provenienz, kultureller Aneignung und dem Umgang mit menschlichen Überresten gründlich diskutiert werden sollen.

Die «Ägyptomanie» und ihre Folgen

Ob andrerseits Ägypten gewillt sei, Schepenese zurückzunehmen, ist zumindest fraglich. Auch wenn Schepenese ein besonders gut erhaltenes Exemplar und ihre Särge kostbar geschmückt sind: Mumien gibt es in unzähligen Museen, allein in der Schweiz sind rund zwanzig ägyptische Mumien vorhanden, das Swiss Mummy Project hat sie erfasst und erforscht sie.

Sie sind in der Westschweiz, in Zürich, Basel, Lenzburg, Schaffhausen zu sehen. Auch das Museum Appenzell beherbergt eine: eines von vier Sargensembles, die der ägyptische Vizekönig 1894 dem Schweizer Bundesrat geschenkt hatte und die dieser halbwegs begeistert erst entgegennahm, nachdem er sich vergewissert hatte, dass keine Gegenleistung dafür erwartet wurde.

Aktionen zur St.Galler Erklärung am 17. November:

15.30 Uhr: Ritual auf dem Gallusplatz

16.30 Uhr: Podium mit Cornel Dora, Monica Hanna und Milo Rau, Lokremise

19 Uhr: Verleihung des Grossen Kulturpreises, Lokremise

22 Uhr: Eröffnung der Ausstellung «Warum Kunst?», Kunsthalle St.Gallen

Infos: return-shepenisis.com

Der Mumienboom war die Folge nicht nur individueller Grabräuberei, sondern des europaweiten schwungvollen Handels mit ägyptischen Altertümern, der nach Napoleons Ägyptenfeldzug 1798 in Gang kam. Die kurz darauf erschienene 28bändige Description de l’Egypte und die Entzifferung der Hieroglyphen durch Champollion 1822 lösten in Europa eine eigentliche «Ägyptomanie» aus. Schiffsladungen voll Antiquitäten verliessen das Land und füllten die Museen – den ersten Rang nahmen dabei Mumien und ihre Särge ein. Parallel dazu betrieben die ägyptischen Vizekönige seit Muhammad Ali eine ausgeprägte Europäisierungspolitik im eigenen Land.

Ausführlich über die «Ägyptomanie» informieren das Buch über die St.Galler Schepenese oder der reich illustrierte Band über Ägyptische Särge, Mumien und Masken in der Schweiz, Unter dem Schutz der Himmelsgöttin (Chronos 2007), herausgegeben vom Swiss Coffin Project.

Zurückgeben? Oder tauschen?

Die Geschichte einer weiteren dieser ägyptischen Mumien hat die Autorin Ina Boesch in ihrem Buch Weltwärts. Die globalen Spuren der Zürcher Kaufleute Kitt (Hier & Jetzt 2021) rekonstruiert. Sie befindet sich in der Archäologischen Sammlung der Uni Zürich, als Geschenk von Armin Kitt, der als Kaufmann Mitte des 19. Jahrhunderts in Kairo lebte und seiner Heimatstadt Zürich zwei Mumien zurückbrachte. Der eine Sarkophag überstand die Reise nicht und zerfiel, der andere blieb erhalten, mit der Mumie eines unbekannten Mannes aus der ptolemäischen Spätzeit.

Eine Restitution sei für die Zürcher Uni kein Thema, schreibt Boesch. Und auch in Ägypten gebe es keine Pläne, die Mumie zurückzufordern. «Es gibt in Ägypten zu viele Mumien, die professionell konserviert und angemessen ausgestellt werden müssen.» Anders ist dies bei Meisterwerken wie dem Kopf der Nofretete in Berlin oder dem «Stein von Rosette» im British Museum in London, die Ägypten bisher vergeblich zurückfordert.

Wie auch immer die St.Galler Debatte verlaufen wird: Sie ist selbstverständlich notwendig im Kontext der immer dringlicheren Forderung nach Wiedergutmachung für den räuberischen Umgang der Kolonialmächte mit anderen Kulturen.

Ägypten ist dabei nur einer von vielen Fällen: Eben diesen Herbst haben Deutschland und Nigeria einen Vertrag unterzeichnet, dank dem hunderte von Benin-Bronzen aus deutschen Museen an Nigeria zurückgehen sollen. Sie stammen aus dem selben Raubzug der britischen Armee von 1897, dem auch das Historische und Völkerkunde-Museum St.Gallen seine umstrittenen Benin-Bronzen verdankt.

In Milo Raus «St.Galler Erklärung» wird das Thema kreativ weitergedacht. Eine der Forderungen zum Schluss heisst «Gütertausch statt Raub!»: St.Gallen könnte, bis der Fall Schepenese dereinst geklärt sei, eine seiner bibliophilen Kostbarkeiten aus der Stiftsbibliothek an Ägypten ausleihen oder gar verschenken. Zum Beispiel den Abrogans, das älteste Buch deutscher Sprache aus dem 8. Jahrhundert.

Stiftsbibliothekar Cornel Dora schlägt seinerseits einen ganz anderen Bogen: Just am heutigen 17. November vor 25 Jahren verübten islamistische Terroristen das Attentat auf den Hatschepsuttempel in Luxor mit 62 Toten, darunter vier Personen aus dem Kanton St.Gallen. Die St.Galler Schepenese und ihre Särge stammten vermutlich aus einer Kapelle in jener Tempelanlage. «Die Mumie und ihre Särge erinnern an das schlimme Ereignis», schreibt Dora.

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