, 14. Dezember 2022
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Rau und St.Gallen, 2011 und 2022

Wenn Milo Rau kommt, wird es unbequem. Und lehrreich. Das ist beim aktuellen Streit um Schepenese ebenso wie bei seinem ersten St.Galler Projekt «City of Change» 2011. Gelegenheit, sich zu erinnern, bietet die Rau-Ausstellung in der Kunsthalle.

Inszenierter Umsturz: die St.Galler Interimsregierung 2011 auf dem Dach der Lokremise. (Bild: Valérie Maerten)

«Der Wandel ist unaufhaltsam», verkündet der Präsident der Interimsregierung, Schauspieler Alexandre Pelichet, vor der St.Galler Kathedrale seinem Volk, den Einwohner:innen der City of Change. Zu dieser «Stadt des Wandels» hat Milo Rau 2011 St.Gallen kurzerhand erklärt, nachdem das Theater St.Gallen sein ursprünglich stärker auf den St.Galler Lehrermord gemünztes Projekt nach wütenden Protesten zurückgezogen hatte.

Bekanntlich aber ist der Wandel hierzulande durchaus aufhaltsam – die Kräfte des Beharrens setzen sich in aller Regel durch. Darum muss gelegentlich einer wie Rau kommen. Wie 2011 bei City of Change oder 2022 bei der «St.Galler Erklärung für Schepenese», die Milo Rau zur Feier des Kulturpreises am 17. November lanciert hat.

Theater als bessere Realität

Im hintersten Raum der St.Galler Kunsthalle sind beide Projekte im Rahmen der Ausstellung «Milo Rau: Warum Kunst?» vereint, zusammen mit Raus anderen Schweizer Stücken: den Zürcher Prozessen, an denen er 2013 die «Weltwoche» und die grassierende Fremdenfeindlichkeit an den Pranger stellte, sowie Die 120 Tage von Sodom und Wilhelm Tell am Schauspielhaus.

Szene aus den Zürcher Prozessen 2013. (Bild: pd)

Für Schepenese steht in der Kunsthalle der orientalisch geschmückte Heuwagen, mit dem Mitglieder des Theater-Ensembles am 17. November die 2600 Jahre alte Mumie symbolisch aus der Stiftsbibliothek entführt haben. City of Change ist in einer Videodokumentation nachzuerleben. Auch wenn die Themen und die Methode verschieden sind: Das eine Projekt hat mit dem anderen zu tun.

Beide sprengen die Theaterbühne und greifen aktionistisch in die Realität ein. 2011 steht eine Petition im Zentrum: Der Kanton St.Gallen soll das Stimmrecht für Ausländer:innen einführen. 2022 ist es eine «Erklärung» mit dem Ziel, die in der Stiftsbibliothek seit 200 Jahren ausgestellte Mumie der ägyptischen Priesterstochter Schepenese an Ägypten zurückzugeben.

Beide Male geht es darum, eine Diskussion in Gang zu bringen, mit offenem Ausgang. Und damals wie heute appelliert Rau an den «kosmopolitischen» Geist der Textil- und Bücherstadt St.Gallen.

Demokratie – nicht für alle

City of Change veranstaltete «Demokratiekonferenzen» in der Lokremise, sendete mit einem eigenen TV-Kanal News zum Projekt, ging auf die Strasse – und brachte am Ende 1135 Unterschriften für die Petition zusammen. Sie wurde mit einigem Theaterdonner den Behörden übergeben und versandete dann in den Untiefen des St.Galler Kantonsrats, dessen Rechtspflegekommission befand, «dass im Bereich der demokratischen Mitwirkungsrechte kein Bedarf besteht, die erst vor wenigen Jahren totalrevidierte Kantonsverfassung zu ändern». Der politische Prozess kam so erst gar nicht in Fahrt.

Am Rand ergänzt: Dass es auch anders ginge, beweist Appenzell Ausserrhoden. Im Entwurf der neuen Kantonsverfassung steht ein Stimm- und Wahlrecht für Ausländer:innen auf Gesuch hin zur Diskussion, unter der Voraussetzung, dass sie seit zehn Jahren in der Schweiz wohnen, ebenso das Stimmrechtsalter 16.

City of Change blieb in dieser Hinsicht wirkungslos. Was die Videodoku aber zeigt, ist die Debattierlust, die es zumindest vorübergehend auslöste: Auf den Podien diskutierten SVP-ler wie Lukas Reimann mit Experten wie Gülcan Akkaya, Mark Therkessidis oder der damaligen St.Galler Justizdirektorin Karin Keller-Sutter. Auf der Strasse liessen sich Menschen jeden Alters in Diskussionen verwickeln.

Die «Interimsregierung» mit Andrea Haller, Alexandre Pelichet und Diana Dengler 2011 in City of Change. (Bild: Stefan Kraft)

Und begleitend zum Projekt spielten dutzende Musikerinnen und Musiker aller Stilrichtungen eine St.Galler Fassung des Michael-Jackson-Knallers We are the World ein. Der «grösste St.Galler Popsong» kribbelt noch jetzt, beim Wiedersehen und -hören, unter der Haut. Da ging von Rap bis Klassik ein musikalischer Ruck durch die Szene, der möglicherweise manches spätere Fusionprojekt inspiriert hat.

Woran sich vermutlich kaum noch jemand erinnert: City of Change schlug nicht nur das Stimmrecht für Ausländer:innen vor, sondern auch eine Umkehrung der Migrationspolitik. Zur Behebung des Fachkräftemangels in der hiesigen Textilindustrie sollten Tausende von Textilfachleuten aus dem arabischen Raum gezielt in die Ostschweiz geholt werden. St.Gallen sollte dafür den Bau von Moscheen forcieren – eine fadengerade Provokation an die Adresse der Ausgrenzungs- und Minarettverbots-Partei, die sich aber lieber darüber aufregte, dass das Logo der City of Change das SVP-Sünneli parodierte.

Gegen die Bequemlichkeits-Reflexe

Im Rückblick muss man feststellen: Der Wandel blieb aus. Die Schepenese-Aktion dürfte dagegen nicht so leicht versanden. Das liegt zum einen daran, dass Rau heute beinah weltweit erfolgreich ist. Was er tut, kann man nicht mehr so leicht wegwischen. Zum andern ist das Thema politisch weniger heikel und damit mutmasslich chancenreicher.

Denn mit dem Stimmrecht für Ausländer:innen stand eine in das Demokratieverständnis der Schweiz eingreifende Hardcore-Forderung im Raum, während die Mumie gesellschaftlich «weichere» Fragen der Restitution, der kulturellen Aneignung und der Ethik im Umgang mit menschlichen Überresten aufwirft.

«Milo Rau: Warum Kunst?», Lokremise St.Gallen, bis 18. Dezember,
Mi-Fr 12-18 Uhr, Sa/So 11-17 Uhr

k9000.ch

Wichtig ist die «St.Galler Erklärung für Schepenese» dennoch: als Appell gegen die Gedankenlosigkeit im Umgang mit fremdem Kulturgut, gegen die Macht der Gewohnheit und die helvetischen Bequemlichkeits-Reflexe: «Da isch scho immer so gsy», «Do chönnt jo jede cho…» etc.

«Schepenese» prangert vordergründig simpel, aber historisch komplex das kolonialistische Unrecht von damals und den bis heute latenten kulturellen Eurozentrismus an. Die Aktion macht darüber hinaus einmal mehr klar, dass auch die international vernetzte Textilstadt St.Gallen ihren Anteil daran hatte und hat.

Innensarg der Schepenese (Bild: Stiftsbibliothek St.Gallen)

Rau bringt Bewegung in die Köpfe und Diskussionen in Gang – dafür ist das Kultur-Preisgeld blendend investiert. Das könnte die St.Galler Regierung auf die Einfache Anfrage antworten, mit der Kantonsrat Michael Götte am 8. Dezember die Regierung auffordert, zukünftig sicherzustellen, «dass der kantonale Kulturpreis nicht für die Entfachung kulturellen Unfriedens missbraucht wird».

Theater in Kriegsgebieten

Lohnend ist auch die üppige Ausstellung in der St.Galler Kunsthalle (noch bis nächsten Sonntag zu sehen). Wer sie besucht, sollte genug Zeit einplanen für die zahlreichen Video- und Filmbeiträge, Schau- und Lesematerialien.

Faire Produkte aus Raus «Revolte der Würde» auf dem Abendmahlstisch des Neuen Evangeliums in der St.Galler Kunsthalle.

Den grössten Raum nehmen Raus in Kriegs- und Krisengebieten durchgeführte Aktionen ein. So Hate Radio 2011 in Ruanda, das Kongo Tribunal 2015 oder die «Revolution der Würde», die Rau 2019 mit afrikanischen Erntehelfern in Süditalien zu seinem Neuen Evangelium initiiert hat.

Oder Orest in Mossul nach der antiken Tragödie des Aischylos, 2020 in den Ruinen von Mossul mit irakischen Spieler:innen und Musikern inszeniert. Da wird zum Beispiel eine Hinrichtungsszene geprobt, detailgenau. Die jungen Männer und Frauen spielen mit Ernst und auch Heiterkeit, was sie unter dem IS-Regime als blutigen Terror noch vor kurzem selber erlebt haben. Und diskutieren in den Trümmern über Rache und Vergebung.

Der Musiker Suleik Salim Al-Khabbaz in Orest in Mossul. (Bilder: Su.)

Die Bilder, die Szenen, die Gesichter des Films und der Bühnenversion hallen lange nach. Und man ist danach erleichtert und demütig, im sicheren Wohlstands-St.Gallen komfortabel über die Rückgabe einer altägyptischen Mumie diskutieren zu können.

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