, 10. März 2023
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Rapperswil-Jona entscheidet über ein Parlament

Im Abstimmungskampf um die Schaffung eines Parlaments in Rapperswil-Jona werden demokratiepolitische Grundsatzfragen verhandelt – aber längst nicht nur. Da schwingen auch alte Gehässigkeiten und unverdaute Polit-Geschichten mit.

Die Kulisse des Städtchens Rapperswil-Jona ist idyllisch, der Abstimmungskampf um ein Parlament hingegen rau. (Illustrationen: Lea Frei, Postkarte: DOME)

Diesen Sonntag, am 12. März, stimmt Rapperswil-Jona über die Schaffung eines Parlaments ab. Die Stadt am Zürichsee ist die grösste Gemeinde der Schweiz, die keines hat. Dass die Bürgerversammlung beibehalten würde, war seinerzeit bei der Fusion von Rapperswil und Jona ein politisches Versprechen. Heute aber wünscht sich der Stadtrat ein Parlament, um seine wichtigsten Geschäfte in der Planung schon früher spiegeln zu können.

Zu viele langjährig geplante Grossprojekte sind in der Vergangenheit an der Bürgerversammlung oder an der Urne versenkt worden. Auch wenn teilweise eine Mehrheit der politischen Parteien dafür gewesen war. Auch jetzt sprechen sich alle Parteien einhellig für ein Parlament aus. Aber die Opposition ist stark. Sie befürchtet einen «Demokratieabbau». Kritiker:innen des heutigen Systems sprechen hingegen von einer blockierenden Betroffenheitspolitik.

Der Kampf zweier politischer Schwergewichte

Im Abstimmungskampf zum Parlament stehen sich auch zwei politische Schwergewichte gegenüber. Die einstigen Verbündeten verkehren heute nur noch schriftlich miteinander: Das sind Stadtpräsident Martin Stöckling und Verleger Bruno Hug. Hug ist eine einflussreiche wie streitbare Figur, er lehnt ein Parlament ab und kritisiert den Stadtrat bei jeder Gelegenheit. Er hat viele Fans, aber auch ebenso viele Kritiker:innen, denen sein machtpolitisches Gebaren nicht immer ganz geheuer ist. In Rapperswil-Jona geht die Rede, dass niemand ohne Hugs Segen das Stadtpräsidium übernimmt.

Zumindest im Fall seines heutigen politischen Kontrahenten Martin Stöckling, seit 2017 Stadtpräsident, ist das nicht ganz von der Hand zu weisen. 2016 kandidierte Bruno Hug zunächst selber fürs Stadtpräsidium. Er hatte zuvor als Verleger und Chefredaktor der «Obersee Nachrichten» eine beispiellose Medienkampagne gegen den damaligen Kesb-Leiter geführt, wobei auch CVP-Stadtpräsident Erich Zoller sein Fett abbekam. Der Stadtrat und der ehemalige Kesb-Leiter hatten die «Obersee Nachrichten» wegen Persönlichkeitsverletzung verklagt – das Bundesgericht hat sie 2021 schuldig gesprochen.

Hug hatte den ersten Wahlgang 2016 deutlich für sich entschieden. Zoller war weg vom Fenster. Doch dann kündigte Hug überraschend an, im zweiten Durchlauf nicht mehr anzutreten. Er empfahl den freisinnigen nebenamtlichen Stadtrat und Juristen Martin Stöckling zur Wahl zum Stadtpräsidenten. Dieser trat damit in die Fussstapfen seines Vaters Hans Ulrich Stöckling, der in den 1980er-Jahren Gemeindeammann von Jona und später St.Galler Regierungsrat gewesen war. «Stöck junior» fände das höhere Amt «auch spannend», sein heutiger Job in Rapperswil-Jona gefalle ihm aber sehr gut, wie er gegenüber Saiten betont. Wir treffen den Stadtpräsidenten Mitte Februar im Sitzungszimmer im obersten Stock des Stadtverwaltungsgebäudes in Jona.

Saiten: Herr Stöckling, sind Sie als sein ehemaliger Anwalt Stadtpräsident von Bruno Hugs Gnaden?

Martin Stöckling: Es stimmt, dass ich früher einige Mandate für ihn hatte. In der Kesb-Geschichte habe ich ihn gegenüber der Stadt aber nicht vertreten. Wir von der FDP unterstützten im ersten Wahlgang noch meinen Vorgänger Erich Zoller von der CVP. Die ganze Kesb-Geschichte hatte ihm allerdings geschadet. Als er im ersten Wahlgang Bruno Hug unterlag, sich dieser aber wieder zurückzog, war für uns klar, dass wir eine Alternative bieten mussten. Die SVP und auch Bruno Hug haben mich unterstützt. Aber er hat mich nicht «portiert». Ich bin selber angetreten und wurde auch klar gewählt.

2015 hat die Bürgerversammlung die Schaffung eines Parlaments schon einmal abgelehnt. Damals waren vor allem auch CVP und FDP dagegen, weil sich die beiden Parteien die Macht in der Stadt traditionell geteilt hatten. Parlamentsgegner:innen halten Ihnen heute besonders genüsslich Ihr damaliges Präsidium des Gegenkomitees vor.

Auch ein Politiker darf seine Meinung ändern. Ein Parlament darf nicht zum Selbstzweck werden. Damals überwogen die Vorteile der Bürgerversammlung meiner Meinung nach. Notabene für die ganze Stadt, nicht nur für CVP/FDP. Der Umstand, dass seither FDP wie CVP je einen Sitz im Stadtrat verloren haben, zeigt, dass wir gegenüber anderen Parteien von der Beibehaltung des Systems nicht sonderlich profitierten.

Warum also braucht Rapperswil-Jona heute ein Parlament?

Dafür sprechen einige gesellschaftliche Tendenzen. Der Einfluss der Parteien und der klassischen Presse nimmt ab. Der Meinungsbildungsprozess funktioniert nicht mehr richtig. Die Vorlagen des Stadtrats sind so zu wenig breit abgestützt und wir erfahren zu wenig, wo welche Kompromisse möglich oder nötig sind. Insbesondere bei wichtigen, kontroversen Themen sind wir blockiert: Wir kommen mit einer lange geplanten Vorlage an die Bürgerversammlung oder an die Urne und verlieren dort. Das ist uns jetzt einige Male passiert. Die heutigen Formen der Mitwirkung – öffentliche und digitale Partizipationsverfahren – können den parlamentarischen Meinungsbildungsprozess längerfristig nicht ersetzen.

Das klingt ein wenig abgehoben. Versteht der Stadtrat seine Bürger:innen nicht?

Wir erhalten schon Rückmeldungen auf unsere Vorlagen, aber daraus entsteht dennoch kein belastbares Meinungsbild. Die Einzelstimmen und die Mobilisierungskraft grosser Vereine wirken sich selektiv aus. Das kann zu Zufallsentscheiden an der Bürgerversammlung führen.

Spüren Sie auch eine grundsätzliche Skepsis gegenüber politischen Institutionen und Parteien?

Die Grundstimmung hat sich seit einigen Jahren schon verändert. Früher mussten an den Bürgerversammlungen vor allem Gegner:innen einer Vorlage überzeugen, wenn sie etwas kippen wollten. Heute ist das umgekehrt: Uns als Stadtbehörde wird nicht mehr vorbehaltlos vertraut. Vielleicht ist auch der gesellschaftliche Gemeinsinn weniger ausgeprägt als früher, der Individualismus stärker geworden. Diese Tendenzen waren schon vor der Pandemie erkennbar, haben sich seither aber verschärft.

Womöglich liegt es auch an der Qualität der Vorlagen. Haben Sie vielleicht beim einen oder anderen Projekt etwas dick aufgetragen?

Da oder dort müssen wir uns diesen Vorwurf gefallen lassen. Das Visitor-Center war vielleicht etwas zu gewagt. Andere Vorlagen wurden an der Bürgerversammlung mit komfortabler Mehrheit angenommen: der Grünfeld-Park oder Schulbauten zum Beispiel. Aber wenn nur noch Projekte durchkommen, die keine Opposition hervorrufen, kann kein grosser Wurf mehr gelingen. An diesem toten Punkt sind wir langsam angelangt.

 

Der Abstimmungskampf wird rauer. Martin Stöckling wird wenige Minuten nach unserem Gespräch den Medien verkünden, dass eine Aufsichtsbeschwerde eingegangen ist. Demnach seien im Abstimmungsbüchlein wichtige Informationen unterschlagen worden oder falsch. «Wir halten diese Vorwürfe für nicht stichhaltig, weshalb wir den Urnengang von uns aus nicht absagen», so Stöckling. Nächste Instanz ist der Kanton, die Behandlung der Beschwerde dürfte einige Monate dauern. Das Abstimmungsresultat vom 12. März könnte theoretisch auch rückwirkend für ungültig erklärt werden.

Wer die Beschwerde eingereicht hat, verrät Stöckling nicht. Sie enthält im Wesentlichen aber dieselben Argumente, wie sie vor wenigen Wochen vom Nein-Komitee zu hören waren, das seinerseits eine Aufsichtsbeschwerde angedroht hatte, würde sein Argumentarium nicht ins Abstimmungsbüchlein aufgenommen. Dabei ist dies gesetzlich gar nicht erlaubt.

Das Nein-Komitee bestreitet, die Beschwerde eingereicht zu haben. «Dies gilt sowohl für uns als Komitee wie auch für uns vier Komitee-Mitglieder als Privatpersonen. Wir haben beschlossen, uns auf den Abstimmungskampf zu fokussieren», erklärt Komitee-Präsident Robert Hegner den Medien.

Die Bürgerversammlung vom 3. November

Das oberste politische Organ in Rapperswil-Jona ist die Bürgerversammlung. Vielen ist sie heilig. Andere finden, sie werde romantisiert. Die Versammlung vom 3. November 2022 wurde in der Sporthalle Grünfeld in Jona abgehalten. Traktandiert war die neue Gemeindeordnung, die im Wesentlichen die Schaffung eines 36-köpfigen Parlaments und die Verkleinerung des Stadtrats auf fünf vollamtliche Mitglieder vorsieht. Heute sind nur drei der sieben Stadträte vollamtlich beschäftigt.

1101 Personen oder 5,8 Prozent der rund 19’000 Stimmberechtigten sind erschienen. Knapp sechs Prozent: Hätten Urnengänge auf kantonaler und nationaler Ebene so tiefe Stimmbeteiligungen, würde die demokratische Legitimation solcher Entscheide bald einmal in Frage gestellt. Im Schnitt besuchen nur 300 bis 400 Personen die Bürgerversammlung. Wenn man die Gesamteinwohnerzahl der Stadt von rund 27’000 und damit Minderjährige und Migrant:innen ohne Stimmrecht dazurechnet, dann sind es im Schnitt nur ein bis eineinhalb Prozent, die regelmässig über die politischen Geschicke der Rosenstadt bestimmen.

Verlust direkter Mitsprache versus mehrheitsfähige Lösungen

An jenem Novemberabend ergriffen über 20 Männer und gerade mal vier Frauen das Wort. Zu Beginn der Eintretensdebatte hatten die Gegner:innen des Parlaments die Oberhand. Ihr Hauptargument war der befürchtete Verlust der direkten politischen Mitsprache. Parlamentsmitglieder müssten sich ständig profilieren und hätten daher ein Interesse, sich mittels hoher Ausgaben die Gunst der Wähler:innen zu erkaufen. Mit einem Parlament würde alles langsamer, komplizierter und teurer. Die Furcht vor höheren Steuern hatte seinerzeit schon die Gegner der Gemeindefusion umgetrieben. Dabei hat Rapperswil-Jona bis heute einen der tiefsten Steuerfüsse im Kanton.

DAS SAGT DER POLITOLOGE

Direktdemokratische Bürgerversammlung oder repräsentatives Parlament? Welches politische System für eine Gemeinde «besser» ist, sei letztlich eine normative Frage und lasse sich nicht pauschal beantworten, sagt HSG-Politologe Patrick Emmenegger. In beiden Systemen gebe es Vor- und Nachteile. «Die Bürgerversammlung ermöglicht den Stimmberechtigten eine direkte Teilnahme an politischen Prozessen», so Emmenegger. Dies schaffe Anreize, dass sich die Stimmbevölkerung aktiv über das Geschehen informiere.

Ab einer gewissen Einwohnerzahl könnte allerdings die Repräsentanz eines solchen Gremiums zunehmend in Frage gestellt werden: Je kleiner der Anteil der Stimmberechtigten, die an der Bürgerversammlung tatsächlich teilnehmen, ausfällt, desto weniger repräsentativ sind die dort gefällten Entscheide. Gleichzeitig brauche eine Gemeinde oder Stadt eine gewisse Grösse, damit ein Parlament mit repräsentativem Parteiensystem funktioniere, sagt der Experte. Im Falle Rapperswil-Jonas mit seinen 27’000 Einwohner:innen sei diese Voraussetzung sicherlich gegeben. Dennoch müsse ein Parlament nicht zwingend die bessere Lösung sein.

Bei Bürgerversammlungen bestehe die Möglichkeit, dass starke Einzelstimmen oder mobilisierungsstarke Vereine die Stimmung zum Kippen bringen könnten und damit im schlechtesten Fall der «Volkswille» verfälscht würde. Dass im direktdemokratischen System aber nur noch die Turnvereine die Politik diktierten, gehört laut Emmenegger ebenso ins Reich der Mythen wie Befürchtungen vieler Parlamentsgegner:innen, im repräsentativen System würde eine abgehobene Polit-Kaste nur noch nach ihrem eigenen Gusto regieren. (hrt)

Erst nach und nach meldeten sich auch die Befürworter:innen zu Wort. Sie fanden, die Meinungsbildung fände heute spät oder gar nie statt. Nur mit einem regelmässig tagenden Parlament könnten mehrheitsfähige Lösungen gefunden und die Stadtpolitik endlich deblockiert werden. Die Bürgerversammlungen würden schwach besucht, die Stadt hätte bei deren Beibehaltung weiter mit Zufallsentscheiden zu kämpfen. Zudem würde ein Parlament den politischen Nachwuchs fördern, was im schweizerischen Milizsystem unabdingbar sei. Den potenziellen Mitgliedern eines Stadtparlaments pauschal Inkompetenz und Profilierungsneurosen zu unterstellen, sei nicht fair.

Die Stimmung im Saal schien – vielleicht nur kurz – wieder leicht zugunsten eines Parlamentes zu kippen. Am Schluss entschied die Bürgerversammlung mit deutlicher Mehrheit, auf die Vorlage einzutreten. Allerdings entschied die Versammlung auch, nicht an diesem Abend darüber zu befinden, sondern das Geschäft an die Urne zu verweisen. Knapp die Hälfte der 1100 Anwesenden stimmte dafür, ein Drittel der Stimmen hätte gereicht. «Ein sehr reifer und mutiger Entscheid nach einer sachlichen und fairen Debatte», kommentiert Stadtpräsident Martin Stöckling diesen Entscheid gegenüber Saiten. «Immerhin hat die Bürgerversammlung damit über ihr eigenes potenzielles Ende entschieden.»

Zankapfel Freibad

Augenscheinlich ist, dass viele Fürsprecher:innen des Parlaments an jener Bürgerversammlung selber Parteimitglieder sind. Die politischen Parteien spielen heute in der städtischen Sachpolitik eine untergeordnete Rolle. Es sind vielmehr gewandte Redner:innen und mobilisierungsstarke Vereine, die an den Versammlungen Entscheide zu ihren Gunsten erwirken können.

Für Joe Kunz ist das legitim. Der Kanu-Trainer war bis vor einem Jahr Pächter der kleinen Ausflugs- und Campinginsel Lützelau. Saiten erreicht ihn per Mail auf Barbados. Obwohl er seine Surfreise längst geplant hatte, schloss er sich nach der Bürgerversammlung vergangenen November – vom Karibikstrand aus – dem Nein-Komitee an.

Saiten: Herr Kunz, haben Sie grundsätzlich etwas gegen Parlamentarismus? Oder gegen Parteien?

Joe Kunz: Nein, auf Bundesebene machen ein Parlament und die repräsentative Demokratie Sinn – auch aufgrund der Gewaltentrennung. Bei lokalen Themen geht es aber um Sachentscheide, da sind Parteiprogramme und Partikularinteressen eher hinderlich. Vier von fünf Ortsparteien haben mich in der Vergangenheit schon angefragt, ob ich ihnen beitreten möchte. Ich habe immer dankend abgelehnt, weil ich Parteien auf lokaler Ebene nicht zwingend für notwendig erachte und ich mich zu wenig aktiv für kantonale und nationale Politik interessiere. Aber ich habe mich schon immer stark mit Rapperswil-Jona identifiziert, mich aktiv eingebracht und mich zu politischen Themen geäussert. Die Bürgerversammlung gibt mir die Möglichkeit dazu.

An der Bürgerversammlung drücken die Bürger:innen und die Vereine doch auch nur ihre Individual- respektive Partikularinteressen aus.

Die meisten Teilnehmer:innen der Bürgerversammlung können sehr gut zwischen Einzel- und Gesamtinteressen unterscheiden.

Der Stadtpräsident glaubt, dass die Meinungsbildungsprozesse heute nicht mehr funktionieren. Auch, weil die Vielfalt in der Medienberichterstattung abnimmt, und ebenso der Gemeinsinn. Was sagen Sie dazu?

Martin Stöckling übertreibt, wenn er behauptet, Rapperswil-Jona lasse sich mit einer Bürgerversammlung nur schwer regieren. Seit 2017 wurden 37 Anträge vom Stadtrat gutgeheissen, zwei Anträge wurden nachgebessert und nur gerade zwei Anträge wurden abgelehnt: der Bau des Visitor-Centers und die Projektierung des Provisoriums Badi Lido.

Für letzteres waren Sie verantwortlich: In einem elektronischen Mitwirkungsverfahren hatten sich 80 Prozent der Teilnehmenden für das Provisorium ausgesprochen. Ihnen gelang es, die Bürgerversammlung von Ihrer Meinung zu überzeugen, dass das Provisorium zu teuer geworden wäre. Können Sie den Einwand des Stadtrats und vieler anderer verstehen, wenn sie solche «Zufallsentscheide» an den Versammlungen kritisieren?

Nachvollziehen ja, aber verstehen tue ich es nicht wirklich. Das Provisorium war mit 7,5 Millionen Franken zu teuer und hätte die grundsätzliche Arealentwicklung um weitere 15 Jahre blockiert. Der Fehler liegt definitiv nicht beim politischen System, sondern in diesem Fall bei der schlecht erarbeiteten Vorlage durch den Stadtrat. Das elektronische Partizipationsverfahren war ein Desaster. Die Fragestellung war schlecht: Wer für die Badi war, konnte sich nur für die Option «teures Provisorium» entscheiden. Die aus meiner Sicht beste Option «Rückbau und schnellstmöglicher Neubau» fehlte, wäre aber womöglich mehrheitsfähig gewesen.

 

Das Lido ist in Rapperswil-Jona einer der grössten Zankäpfel der letzten Jahre. Das Freibad im Rapperswiler Südquartier, wo sich auch Knies Kinderzoo und – in unmittelbarer Nachbarschaft – das Lakers-Eisstadion befinden, muss saniert werden. Der Stadtrat legte der Bürgerversammlung 2018 einen Lido-Projektkredit über 27,5 Millionen Franken zur Sanierung des Bads vor. Dieser wurde an der Urne mit 72 Prozent angenommen. Baubeginn hätte 2020 sein sollen, doch Ende 2019 informierte der Stadtrat, dass man die Projektkosten zu tief eingeschätzt hatte und das Lido endgültig geschlossen werde. Obwohl sich das Stimmvolk sehr deutlich für die Sanierung der Badi für fast 30 Millionen Franken ausgesprochen hat.

Rettung auf Zeit

Bianca Brunner war baff, wie sie beim Kaffee im Zeughausareal erklärt. Seit sie aus Südamerika in die Schweiz eingereist ist und schliesslich eingebürgert wurde, hat sie sich engagiert. Zuerst im Südquartierverein, mittlerweile als gewählte Schulrätin. Sie sitzt ausserdem im Vorstand der GLP Rapperswil-Jona/Linth.

«Nach der Bürgerversammlung 2018 waren wir überglücklich und haben noch eine Bye-bye-Party für das alte Lido gefeiert», sagt Brunner. Als dann die Meldungen über die Schliessung des Bads aus dem Stadtrat kamen, entschied sie im Alleingang, eine Petition auf die Beine zu stellen, damit das Freibad wenigstens noch für die kommende Saison offen blieb. Innert drei Wochen sammelte sie über 2000 Unterschriften. Die Stadtregierung lenkte ein, die Badi war in den vergangenen drei Sommern offen. Dann lancierte der Stadtrat die erwähnte E-Mitwirkung.

Saiten: Frau Brunner, sind 7,5 Millionen Franken für ein Provisorium nicht etwas viel Geld?

Bianca Brunner: Ich fände es vertretbar. Das gäbe uns Zeit, das ganze Areal richtig zu planen, mit allen Interessent:innen und zum Beispiel auch mit den Lakers, die eine neue Infrastruktur brauchen. Die Menschen haben sich im E-Mitwirkungsverfahren zu über 80 Prozent für das Provisorium ausgesprochen. Doch dann ist an der Bürgerversammlung Joe Kunz aufgestanden und hat das Projekt gebodigt. Ich war enorm frustriert.

Wie konnte es dazu kommen?

Ich kann es mir nicht erklären. Nach Kunz hat an jener Bürgerversammlung niemand anderes gesprochen. Auch der Stadtrat hat geschwiegen. Vielleicht ging man davon aus, dass die Bürgerversammlung das Provisorium trotz der Einwände von Joe Kunz annehmen würde. Ich denke, hier zeigt sich deutlich, warum Rapperswil-Jona ein Parlament braucht. In einem Parlament gäbe es weniger solcher Überraschungen.

Und auch weniger Mitsprache von Personen, die nicht einer Partei beitreten wollen …

Ich kann diese Bedenken nachvollziehen. Aber schliesslich können die Stimmberechtigten auch parteifreie Listen aufstellen.

Solche Listen haben es in einer Parteienlandschaft in der Regel sehr schwer.

Dem pflichte ich bei, verstehe dies aber als Teil unseres Politsystems. Wer ohne Unterstützung einer Partei politische Ziele erreichen möchte, hat diesen Weg bewusst gewählt und weiss, dass man sich dann umso mehr anstrengen muss. Es geht in einem Parlament darum, wichtige Geschäfte über längere Zeit zu begleiten, damit es bei Abstimmungen dann nicht zu Schnellschüssen kommt. Ein Parlament kann auch früher eingreifen, wenn der Stadtrat in eine falsche Richtung plant.

Sie haben sich als Zugezogene rasch integriert, sich im Quartierverein engagiert und sind heute Schulrätin. Was hat Sie dazu bewogen, der GLP beizutreten?

Das war 2016, als Erich Zoller aus dem Stadtrat gekickt wurde. Etwas schien nicht gut zu laufen in der Stadt und ich fragte mich, ob wir ein Demokratieproblem haben. Ich war schon früher in meiner Heimat in Brasilien politisch aktiv. Und die Probleme hier sind natürlich ganz anders gelagert. Dennoch hegte ich erst ab 2016 den Wunsch, mich auch hier politisch stärker zu engagieren. Ich sehe mich politisch Mitte-Links und bin über eine gute Freundin mit ähnlichen politischen Ansichten zur GLP gekommen.

Würden Sie fürs Parlament kandidieren, wenn es dereinst eins gäbe?

Das kann ich noch nicht sagen. 2019, etwa zur Zeit der Lido-Petition, überrumpelte mich die Partei mit der Anfrage, ob ich fürs Kantonsparlament kandidieren wolle. Ich habe zugesagt und erzielte das drittbeste Ergebnis auf der GLP-Liste, von der aber nur Andreas Bisig in den Kantonsrat einzog. Heute als Schulrätin könnte ich mir schon vorstellen, für das Stadtparlament zu kandidieren und weiter lokalpolitisch engagiert zu bleiben. Aber ich entscheide, wenn es so weit ist.

 

Zurzeit muss sich Bianca Brunner einige Kritik anhören, weil sie sich in der Lido-Sache in einer «unheiligen Allianz» mit Joe Kunz zusammengetan hat, der kurz nach seinem Auftritt an der Bürgerversammlung in einem Video seine eigene Lido-Vision präsentiert hatte. Gemeinsam haben Brunner und Kunz letzten Sommer eine Motion mit über 1000 Unterschriften eingereicht, die verlangt, dass das Lido offen bleibt und bis zum grossen Neubau minimalsaniert wird. Sowohl Brunner als auch Kunz geben an, keine persönlichen Interessen am Freibad zu hegen, beide schwimmen lieber im See, wünschen sich aber eine nachhaltige Arealentwicklung im Südquartier.

Wieder einmal war es Bruno Hug, der im Hintergrund die Fäden zog. Er hat die Kooperation zwischen Kunz und Brunner eingefädelt. Hug antwortet Saiten nur schriftlich, weil er «zeitlich stark eingebunden» sei.

Saiten: Herr Hug, warum haben Sie 2016 Martin Stöckling vorgeschlagen, nachdem Sie sich für den zweiten Wahlgang aus dem Rennen genommen hatten? Kritische Stimmen sagen, Sie hätten sich damit aus der Verantwortung gestohlen und verblieben lieber in der bequemen Stellung des einflussreichen Behördenkritikers.

Bruno Hug: Der Wahlkampf war für meine Frau und meine Familie mit unserem damals vierjährigen Sohn sehr belastend. Am Wahlabend kam Nationalrat Marcel Dobler zu mir und sagte, Martin Stöckling wäre bereit, im zweiten Wahlgang anzutreten und meine Stimmen zu übernehmen. Mir schien das eine gute Lösung für die Stadt und meine Familie.

Warum sind Sie gegen ein Parlament? Dieses würde die Arbeit des Stadtrats überwachen, den Sie heute so oft kritisieren.

Mit dieser Frage machen Sie es mir leicht. Ich muss nur zitieren, was der heutige Stadtpräsident, seine FDP sowie die CVP 2015 in deren Abstimmungsprospekt schrieben: «Das Parlament lähmt die Stadt, blockiert die Verwaltung und führt zu höheren Steuern.» Oder: «Warum sollen wir die erfolgreiche Bürgerversammlung aufgeben, warum sollen 36 Parlamentarier besser sein als die Bürgerversammlung?» Oder: «Da Parlamentarier auffallen wollen, wirkt das generell ausgabenerhöhend.» Und heute behaupten dieselben Leute das Gegenteil.

Mit einem Parlament würden die politischen Parteien an Einfluss gewinnen. Sie als Einzelperson gehörten, trotz Ihrer Position als Verleger des Online-Portals «Linth24», machtpolitisch zu den Verlierern. Geht es Ihnen mit Ihrer Opposition gegen ein Parlament nicht nur um die Wahrung Ihrer eigenen Machtinteressen?

Für «Linth24» wäre ein Parlament sogar gut. Weil 36 Parlamentarier und fünf Stadträte ständig um ihre Wiederwahl buhlen. Aber mich interessiert sowas nicht. Ich setze mich für das grosse Ganze ein, sonst hätte ich nicht 24 Jahre lang den Eishockeyclub geführt, das Blues’n’Jazz und den Weihnachtsmarkt und vieles mehr aufgebaut in der Stadt. Kleinliches Machtstreben interessiert mich nicht. Charakter und Mut braucht der Mensch.

Ist es nicht undemokratisch, wenn zum Beispiel Sportvereine nur an die Bürgerversammlung kommen, wenn es um «ihre» Anlagen geht, und sich sonst für keine anderen Geschäfte interessieren?

Wir haben viele schöne Sportanlagen in Rapperswil-Jona, gerade weil die Vereine zur Bürgerversammlung mobilisierten. In einem Parlament hiesse das dann, ich gebe dir einen Tschuttiplatz, du gibst mir einen Kulturbau. Da steht nicht die Sache im Zentrum, sondern die Ideologie. Da ist mir der Einsatz der Direktinteressierten lieber.

Es geht das Gerücht, dass Sie Joe Kunz als neuen Stadtpräsidenten aufbauen möchten. Er selber sagt zwar, er habe keine bestimmten Karriereabsichten, agiere unabhängig und lasse vieles auf sich zukommen. Ein grundsätzliches Nein klingt anders. Was sagen Sie dazu?

Joe Kunz ist fähig, glaubwürdig und gradlinig. Jeder, der diese Eigenheiten besitzt, sollte im Herbst 2024 für das Stadtpräsidium oder den Stadtrat antreten. Was Joe aber tun will, weiss ich nicht.

 

Franziska Kohler gehört – neben Joe Kunz, Robert Hegner und Martin Casal – zum vierköpfigen Nein-Komitee. Die studierte Philosophin und Kunsthistorikerin bezeichnet sich als «Lokaljournalistin mit Leib und Seele». Vor dem Studium war sie freie Mitarbeiterin bei der «Linth-Zeitung», während des Studiums bei diversen Regionaltiteln. Danach war sie beim «Murtenbieter», einer Lokalzeitung der «Freiburger Nachrichten», angestellt. Heute arbeitet sie beim «March-Anzeiger» und «Höfner Volksblatt», die beim selben Verlag erscheinen.

«Gerade in der französischsprachigen Schweiz haben sehr viele auch relativ kleine Gemeinden ein Parlament», sagt Kohler. Dort zeige sich deren Dysfunktionalität am augenscheinlichsten. Es komme zu vielen Rücktritten, die Parlamentssitze zu besetzen, sei schwierig. Die Bürgerversammlung wirke auf den politischen Nachwuchs zudem integrativer als ein Stadtparlament. An der Bürgerversammlung sei die politische Teilhabe generell niederschwelliger als in einem Parlament, wo man sich nur über Beziehungen und gute Listenplätze einbringen könne. «Wenn die Leute schon Mühe haben, sich Zeit für die Bürgerversammlung zu nehmen, wer kann sich dann noch ein Engagement in einem Parlament leisten?» Im Video-Call mit Saiten spricht sie sich ausserdem für ein Stimmrecht für Ausländer:innen aus. Ihr geht es also in erster Linie um politische Teilhabe.

Zwischen Faszination und Befremdung

Karin Ilg ist für das Parlament. Die Primarlehrerein aus Flawil, die einst als jüngstes Mitglied ins St.Galler Stadtparlament gewählt wurde und später für Albert Nufer in den Kantonsrat nachrückte, lebt mittlerweile in Rapperswil-Jona. Sie ist zwar noch GLP-Mitglied, aber bekleidet heute kein politisches Amt mehr. Als sie mit Mitte 30 ihre erste Bürgerversammlung in Rapperswil-Jona besuchen durfte, war sie zugleich fasziniert und befremdet. Sie bemerkte, dass vor allem ältere Leute da waren und fast ausschliesslich Männer das Wort ergriffen, und dachte sich: «Ui, das sind jetzt also die Leute, die direktdemokratisch über Rapperswil-Jona entscheiden.»

Ilg hat Verständnis dafür, dass sich die Leute die Möglichkeit nicht gerne nehmen lassen, dem Stadtrat direkt die Meinung sagen zu können. Aber als ehemalige Parlamentarierin hat sie auch genug vom ewigen Polit-Bashing. Sie habe in den Parlamenten von Stadt und Kanton St.Gallen erlebt, wie engagiert und speditiv da gearbeitet werde. «Da geben viele Leute viel Freizeit her zum Wohl der Gemeinschaft. Und reich wird dabei niemand.»

Gemüts- und Verkehrslage

Es wird viel gestritten in Rapperswil-Jona, auch schwingt immer ein gewisses Misstrauen gegenüber der Gegenseite mit. Der Stadtrat misstraut der Bürgerversammlung, die Bürgerversammlung misstraut den Parteien, die Parteien misstrauen den einflussreichen Parteilosen. Vorbehaltlos zustimmen würden aber alle, mit denen Saiten gesprochen hat, dass Rapperswil-Jona ein hübsches Städtlein ist, mit idyllischer Lage direkt am See, mit einer hohen Lebensqualität, einem tiefen Steuerfuss, der weit unter dem kantonalen Durchschnitt liegt, mit einer brummenden Wirtschaft – und dem einen oder anderen Superreichen, die sich aus all diesen Gründen gerne hier am Obersee niederlassen und die Steuerkasse klingeln lassen.

DIE KOSTENFRAGE

Ein häufig genanntes Argument gegen ein Parlament für Rapperswil-Jona sind die Kosten. Im Abstimmungsbüchlein listet die Stadt dazu die Zahlen vergleichbarer Städte im Kanton mit Parlament auf: Gossau (18’000 Einwohner:innen, 30 Parlamentsmitglieder) gibt jährlich rund 130’000-150’000 Franken für den Parlamentsbetrieb aus, inkl. Sitzungsgelder der Ratsmitglieder, die den grössten Ausgabeposten ausmachen. In Wil (24’000 Einwohner:innen, 40 Parlamentsmitglieder) sind es jährlich zwischen 370’000 und 460’000 Franken.

Zum Vergleich: Rapperswil-Jona wendet heute für die Bürgerversammlung jährlich zwischen 70’000 und 90’000 Franken auf. Nicht mitgezählt sind die Ausgaben für Schulrat, Geschäftsprüfungskommission und Stadtforum von jährlich über 200’000 Franken. Diese würden mit der Schaffung eines Parlaments entfallen.

In Wil gibt es seit 1985 ein Stadtparlament, in Gossau seit 2000. Es gab seither keine ernsthaften Bestrebungen, diese wieder abzuschaffen. Rorschach hat seinen Parlamentsbetrieb 2004 nach 95 Jahren eingestellt, aber nicht des Geldes wegen, sondern weil der damalige Bevölkerungsrückgang in der 8500-Einwohner:innen-Stadt am Bodensee das personelle Reservoir für ein Parlament allmählich austrocknete. (hrt)

Einig ist man sich in Rapperswil-Jona ausserdem über das seit Jahren ungelöste Verkehrsproblem. Weniger einmütig gestaltet sich die Lösungsfindung. Sämtliche Versuche zur Untertunnelung des Obersees zwecks Entlastung der Nord-Süd-Achse über den Seedamm sind bisher gescheitert. Es gibt Leute, die sich insgeheim die Sprengung des Seedamms herbeifantasieren.

2019 wurde das Projekt «Avenida», eine Umfahrungsstrasse zur Entlastung der Ost-West-Achse auf der Neuen Jonastrasse/St.Gallerstrasse, an der Urne mit 69 Prozent Nein-Stimmen wuchtig verworfen. Es war auch dieses Nein, das beim Stadtrat und den Parteien die Entscheidung reifen liess, wieder verstärkt über die Einführung eines Parlaments nachzudenken.

Nebst jenen, die grundsätzlich gegen neue Strassen sind, haben sich immer auch die direkt Betroffenen lautstark gewehrt. Das sei natürlich legitim, sagt dazu Stadtpräsident Martin Stöckling, Tunnelportale und Umfahrungsstrassen täten immer irgendwem weh. Und natürlich gelte es für Rapperswil-Jona, seine Hausaufgaben bezüglich Modalsplit zu machen und den selbstgemachten Individualverkehr möglichst auf den ÖV und aufs Velo zu verlagern. Dies habe aber höchstens auf der Ost-West-Achse eine grössere Wirkung. Beim «fremden» Durchgangsverkehr über den Seedamm habe man als Stadt kaum eine Handhabe. Nur ein Tunnel könne hier brachiale Verkehrsverlagerungsmassnahmen verhindern.

Wie steht es jetzt ums Parlament? Bruno Hug geht davon aus, dass Rapperswil-Jona auch künftig kein Parlament haben wird. Er rechnet für die Vorlage vom 12. März mit einer Zustimmung von maximal 49 Prozent. Sonst wagt kaum jemand eine Prognose. Es dürfte so oder so eng werden.

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