Raiffeisenplatz: Bank sieht keinen Grund zur Umbenennung

Ein Gutachten belegt: Friedrich Wilhelm Raiffeisen war Antisemit, aber kein Scharfmacher. Ob der nach ihm benannte Platz am Hauptsitz der Bank in St.Gallen umbenannt wird, muss der Stadtrat entscheiden.
Von  Reto Voneschen
Der Raiffeisenplatz im St.Galler Bleicheli-Quartier. (Bilder: David Gadze)

Die Schweizer Raiffeisenbewegung war in ihrer Geschäftstätigkeit nicht antisemitisch ausgerichtet. Im Gegenteil gehörten Jüdinnen und Juden etwa im aargauischen «Judendorf» Endigen von Anfang an zur Kundschaft. Auch war Raiffeisen als klassische Inlandbank nicht in die Raubwirtschaft der Nazis verstrickt. Zu diesen Schlüssen kommt ein Gutachten des Archivs für Zeitgeschichte der ETH Zürich, das für Raiffeisen Schweiz erstellt und am Donnerstag am Hauptsitz in St.Gallen vorgestellt wurde. Dafür hatten die Forschenden um Gregor Spuhler und Verena Rothenbühler Zugang zum zentralen Archiv sowie zu Regionalarchiven der Bank in den Kantonen St.Gallen, Aargau, Solothurn, Fribourg, Waadt und Wallis.

Untersucht wurden fürs Gutachten auch antisemitische Positionen des deutschen Bankgründers Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818–1888). Nach ihm ist in St.Gallen der Rote Platz benannt, an dem sich das Hauptquartier von Raiffeisen Schweiz befindet.

Platz nach Bankgründer oder Judenretterin benennen?

Im Mai 2023 hatte eine Gruppe um Hans Fässler (darunter Paul Rechsteiner und der Historiker Stefan Keller) die Umbenennung des Platzes gefordert, weil Friedrich Wilhelm Raiffeisen ein Antisemit gewesen sei. An seiner statt solle hier die St.Gallerin Recha Sternbuch ehren, die Jüdinnen und Juden vor den Nazis gerettet hatte. Der Stadtrat, der für den Platznamen zuständig ist, wollte damals die historische Aufarbeitung des Themas abwarten.

Im Mai 2023 hatte eine Gruppe um Historiker Hans Fässler (2. von rechts) den Raiffenplatz kurzerhand in Recha-Sternbuch-Platz umbenannt. (Bild: David Gadze)

Im Mai 2023 hatte eine Gruppe um Historiker Hans Fässler (2. von rechts) den Raiffenplatz kurzerhand in Recha-Sternbuch-Platz umbenannt.

Der Entscheid in dieser Frage liege weiter bei der St.Galler Stadtregierung, hiess es dazu am Donnerstag von Christian Hofer, bei Raiffeisen zuständig für den Bereich «Nachhaltigkeit, Politik & Genossenschaft», auf Medienfragen. Als grösster Anlieger des Platzes erwarte man schon, vor dem Entscheid von der Stadt begrüsst zu werden.

Die Empfehlung von Raiffeisen wäre dann klar: Aus Sicht von Christian Hofer entkräftet das historische Gutachten die für eine Umbenennung des Platzes angeführten Argumente. Das Papier zeige, dass Raiffeisen Schweiz nie eine antisemitische Bank gewesen sei und auch keine Nähe zum Nationalsozialismus gepflegt habe.

Argumente für und wider die Umbenennung

Als Historiker begrüsste Gregor Spuhler, Chef des Archivs für Zeitgeschichte der ETH Zürich, im Grundsatz Diskussionen über historische Platznamen. Im Fall des Raiffeisenplatzes liefere das Gutachten Argumente für die Beibehaltung des heutigen Namens, aber auch Aspekte, die für eine Umbenennung sprächen. Wie man damit umgehe, sei jetzt eine politische Frage. Vielleicht müsse die Frage breiter diskutiert werden, sagte Spuhler, nämlich wem überhaupt ein Platzname zustehe. Die makellosen Heldinnen und Helden, die wir gerne für solche Zwecke hätten, kämen in der realen Welt nämlich selten bis gar nicht vor.

Was die Umbenennung des Raiffeisenplatzes angeht, hatte die Medienorientierung über das historische Raiffeisen-Gutachten vorgängig einen etwas kuriosen Verlauf genommen. Dass der Platzname strittig ist, kam in den Präsentationen gar nicht vor. In der folgenden Fragerunde nahm dieses Thema dann aber den grössten Raum ein. Raiffeisen-Vertreter Christian Hofer wollte auch nichts davon wissen, dass das Gutachten wegen des Namensstreits in Auftrag gegeben wurde. Raiffeisen Schweiz habe entschieden, seine Geschichte öffentlich zugänglich zu machen. Dafür sei dieser heikle Aspekt aufgearbeitet worden. Das Gutachten ist im Netz vollumfänglich einsehbar.

Zu keinem Zeitpunkt eine antisemitische Bank – trotz judenfeindlicherm Gründungsmythos

Das Gutachten entlastet die Schweizer Raiffeisenbewegung. Ihre Geschäftstätigkeit sei nicht antisemitisch ausgerichtet gewesen, sagte Historikerin Verena Rothenbühler. Es sei zwar aufgrund des zunächst katholisch-konservativen und später landwirtschaftlich-bürgerlichen Milieus, in dem sie verankert gewesen sei, nicht auszuschliessen, dass der eine oder andere Akteur antisemitisches Gedankengut vertreten habe. Nicht dokumentiert, aber ebenfalls nicht auszuschliessen seien antisemitische Einzelfälle. Antisemitismus habe aber in der Schweiz von Anfang an definitiv nicht zum Geschäftsmodell der Raiffeisenbanken gehört.

Zum nationalsozialistischen Regime blieb die Schweizer Raiffeisenbewegung auf Distanz. Dies allerdings mit Nuancen in der Deutschschweiz und der Romandie: In der Deutschschweiz grenzte sich Raiffeisen zwar von den Nazis ab, als bürgerliche Bewegung mit antikommunistischen Motiven und Abgrenzung zur Arbeiterschaft gab es in den 1920er- und 1930er-Jahren aber wohlwollendes Interesse für die autoritären Regimes in Italien, Österreich und Deutschland. In der Romandie distanzierte man sich früher und klarer von den Nazis und ihrer Judenverfolgung. Als klassische Inlandbank hatte Raiffeisen gemäss Verena Rothenbühler auch keinen Anteil an der Nazi-Raubwirtschaft.

Aus Deutschland übernommen wurde aber der Gründungsmythos der Bank: Raiffeisen soll mit seinen Genossenschaftsbanken die deutschen Bauern «vom jüdischen Wucher» befreit haben. Das Stereotyp wurde überraschend lange kolportiert. Erst in einer Festschrift von 2000 wurde es als Problem identifiziert. Das sei ein Bruch mit der Vergangenheit gewesen, stellte Gregor Spuhler vor den Medien fest. Das christlich-konservative Vorurteil vom jüdischen Wucher existiere seit dem Mittelalter. Als neuzeitlicher Gründungsmythos sei es typisch für Raiffeisen, was wiederum mit dem katholisch-ländlichen Milieu zusammenhänge, in dem die Bewegung in der Schweiz entstanden sei.

Ein Antisemit, aber kein Scharfmacher

Durchzogen ist das Resultat des Gutachtens zur Person des Bankgründers Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Bei ihm taucht gemäss Gregor Spuhler jene Volksgruppe, die sich im Wucher betätige, schon in einer Schrift von 1866 auf. Aus dem Jahr 1880 gibt es widersprüchliche Dokumente zur Position von Raiffeisen in der sogenannten Judenfrage, der Gleichstellung der deutschen Juden: In einem vertraulichen Bericht über die Wirtschaftskrise in Oberschlesien finden sich heftige antisemitische Ausfälle. In einem Grundsatzartikel, der drei Wochen später veröffentlicht wurde, ist das Bild differenzierter: Neben der Forderung, Juden müssten sich assimilieren, finden sich negative, aber auch positive Stereotypen.

Als christlich-konservativer Sozialreformer habe sich Friedrich Wilhelm Raiffeisen, wie viele seiner Zeitgenossen, antisemitischer Stereotypen bedient, stellte Gregor Spuhler am Donnerstag in St.Gallen fest. Aufgrund der Dokumentenlage sei er aber wohl kein antisemitischer Scharfmacher gewesen. «Wucher» war gemäss Gutachten für Raiffeisen typisch «jüdisch», und Kritik an jüdischen Geldverleihern und Viehhändlern verband er mit antijüdischen Stereotypen. Er distanzierte sich aber von antijüdischer Agitation, lehnte Gewalt ab und engagierte sich nicht politisch. Auch forderte er nicht die Rücknahme der politischen Gleichberechtigung der Juden, sondern ihre «Assimilation».

Die Bank verurteilt Antisemitismus in jeder Form

Raiffeisen Schweiz nimmt die Resultate der historischen Aufarbeitung zur Kenntnis. Mit dem Gutachten habe man eine Forschungslücke geschlossen, sagte Christian Hofer. Die Raiffeisen-Gruppe distanziere sich von antisemitischen Äusserungen früherer Exponenten. Man verurteile Antisemitismus in jeder Form, er widerspreche den Genossenschaftsidealen von Raiffeisen, betonte Hofer. Raiffeisen Schweiz habe nie eine antisemitische Ideologie vertreten, sei nie eine antisemitische Bewegung gewesen und sei auch nicht in die Nazi-Raubwirtschaft verstrickt gewesen.

Der Ball im Namensstreit liegt damit wieder beim Komitee, das eine Umbenennung des Raiffeisenplatzes fordert, und bei der St.Galler Stadtregierung. Beide Seiten konnten noch keine Stellung zum Inhalt des historischen Gutachtens nehmen. Man werde jetzt den Bericht lesen und analysieren, sagt Historiker Stefan Keller.

Das gleiche Verfahren hat die Stadt vor: Umfang und Inhalt der Studie seien auch ihr seit Donnerstag bekannt. Der Stadtrat wolle «zeitnah» Stellung nehmen, lässt Baudirektor Markus Buschor wissen, der ferienhalber ortsabwesend ist. In einem ersten Schritt werde sich die Arbeitsgruppe für die Namensgebung der ETH-Studie annehmen.