Quarantänetipp 14: Winterberg
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«Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.» Dieses Zitat von Blaise Pascal aus dem 17. Jahrhundert (!) kommt mir dieser Tage in den Sinn, wo uns allen der Einschluss droht oder zumindest ein starker Verzicht auf Begegnungen und Ausgang.
Vielleicht wäre es gar nicht verkehrt, jetzt nicht gleich wieder in die Aktivität zu gehen, sondern das zu versuchen, was Blaise Pascal uns indirekt vorschlägt: runterzufahren, innezuhalten, zu begreifen, was da gerade geschieht.
Als Quarantäne-Lektüre kann ich Jaroslav Rudiš’ Roman Winterbergs letzte Reise empfehlen. Der hundertjährige Winterberg, geboren in der Tschechoslowakei 1918, macht mit seinem tschechischen Sterbebegleiter Herr Kraus die letzte Eisenbahnreise quer durch Mitteleuropa zu den Schauplätzen seines Lebens. Winterberg lebt meist in seiner Vergangenheit und verheddert sich oft zwischen der Realität seines Baedekkers aus dem Jahre 1913 und heute.
Trotzdem kommen sich beide Figuren erstaunlich nahe, tschechisches Bier fliesst in Strömen, und man erahnt mit jedem Bahnkilometer mehr, dass die Vergangenheit gar nicht vergangen ist, sondern höchst lebendig in ihren Auswirkungen und Traumata. Merkwürdig passend zu einer Zeit, in der man sich von den Alten fernhalten soll, um sie zu schützen, während hier eine Zuwendung des Sterbebegleiters zum alten Winterberg geschieht, die diesen nochmal ins Leben zurückbringt.
Wer jetzt nicht ganz auf Theater verzichten will, kommt beim digitalen Spielplan von nachtkritik.de auf die Rechnung, wo täglich per Stream die Aufzeichnung einer Theateraufführung aus dem deutschsprachigen Raum gezeigt wird. Und wer gern informatives Radio hört, dem sei die App Dlf Audiothek vom Deutschlandfunk empfohlen. Sehr übersichtlich und eine endlose Fundgrube!
«Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.» In diesem Sinne: einfach mal innehalten, wer weiss, wozu es gut ist.
Dieser Tipp erschien im Aprilheft von Saiten.