Pride statt Männertränen

Die Schweiz wird am ESC nicht mehr von traurigen Boys repräsentiert, sondern von einer nonbinären Person, die stolz über ihre Identität singt. Richtig so, findet Saiten-Kolumnistin Mia Nägeli und hofft, dass sie sich die Nemo-Show ohne Panikattacke ansehen kann.
Von  Mia Nägeli

Als ich das erste Mal ein Live-Konzert von Nemo hörte, lag ich in einer Waschküche mit einer Matratze, einer Holzkommode und ein paar Dutzend Büchern drin, hundert Meter vom Bundesplatz entfernt, und weinte. Ich war gerade ein paar Tage in Bern, und weil die Altstadtstrassen mit Pride-Fahnen geschmückt waren, was mir ein Gefühl von Sicherheit gab, dachte ich, ich könnte mir doch die Bern Pride ansehen.

Ich spazierte eine Viertelstunde vor Nemos Auftritt zum Bundesplatz, wo irgendein Reggaeton-Act auf der Bühne und rund um mich ausnahmslos Menschen standen, die ich als Männer las. Ihre Leder- oder Latex-Outfits und andere Gay-Klischees kannte ich aus der Schwulencommunity, in der ich mich früher hie und da versteckt hatte. Weil mir Typen auf der Strasse «Schwuchtel» nachriefen und Girls hie und da dachten, ich sei schwul, begann ich das selbst zu glauben. Und die Gays an der Demo führten zu Flashbacks an Sexclubs und «typisch schwule» Dinge, die mir von anderen oder von mir selbst aufgezwungen worden waren. Statt als trans Frau mit Pride fühlte ich mich wieder wie ein angeblicher ungeouteter Schwuler mit Depressionen und Angststörung. Als Nemos Set begann, war ich bereits mit einer Panikattacke abgehauen und hörte die Songs an eine Waschmaschine gelehnt durchs geschlossene Fenster wummern.

Seit der Show hatte ich wieder und wieder solche Attacken und ging kaum mehr aus. Nemo hingegen outete sich als nonbinär und nimmt in ein paar Wochen für die Schweiz am Eurovision Song Contest teil. Und das mit einer genderqueeren Hymne, die mit choralem Intro, Rap-Strophe, Drum-’n’-Bass-Beat und Musical-Coda so viel ESC-Potenzial hat wie kaum ein Schweizer Song der letzten Jahre – zumindest mehr als all die Boys mit Männlichkeits-Balladen, die die Schweiz so gern an den ESC schickt.

2022 spielte Marius Bear einen Song darüber, dass auch Männer weinen. Damals glaubte ich noch, ein Mann zu sein, war aber meistens zu traurig, um zu weinen. Und jetzt, zwei Jahre später, hab ich gecheckt, dass ich weder schwul noch ein Mann bin. Also seh ich mir dieses Jahr den ESC an und hoffe, dass ich jetzt, wo die Schweiz nicht mehr von traurigen Boys, sondern von einer nonbinären Person repräsentiert wird, die stolz über ihre Identität singt, mir eine Nemo-Show ohne Panikattacke ansehen kann.

Mia Nägeli, 1991, arbeitet nach einer Journalismusausbildung und ein paar Jahren bei verschiedenen Medien heute in der Musikbranche in der Kommunikation, als Tontechnikerin und als Musikerin.