Postkultur II: Fast ein Text über die Postpost

Es ist Mittwoch in der ungefähren Tagesmitte, als ich die Postpost (auch bekannt als Museum Point jaune) im Linsebühl betrete. Kein zufällig vorgeschlagener Termin – im Wissen, das an diesem Ort fast nichts zufällig geschieht. An der Aussenmauer des Hauses steht: Alte Post – erbaut 1898. Das ist dasselbe Jahr, in welchem die St.Galler Handelsakademie, heute HSG, gegründet wurde. Als Spitze der Pyramide der möglichen Unzufälligkeiten ist es ebenfalls das Jahr, in welchem Dr. Faustroll mit 63 Jahren zur Welt kam. Mit ihm als Protagonisten kam in Alfred Jarrys Buch Heldentaten und Ansichten des Doktor Faustroll um die vorletzte Jahrhundertwende der Begriff ‘Pataphysik ans Licht der Öffentlichkeit. Um diesen Begriff kommt man weder in der Postpost noch in folgendem Text herum, deshalb hier die offizielle Kurz-Erklärung von Wikipedia: «Die ‘Pataphysik ist die Wissenschaft imaginärer Lösungen, die den Grundmustern die Eigenschaften der Objekte, wie sie durch ihre Wirkung beschrieben werden, symbolisch zuordnet.»
Wie jede echte Wissenschaft ist die Pataphysik nicht an einer vollendeten Welterklärung interessiert, sondern bietet vielmehr einen breiten Werkzeugkasten an, mit welchem man vermeintliche Tatsachen ändern kann. (Um die Werkzeugkastenmetapher auszubauen, könnte man auch sagen: Mit den richtigen Zangen und Griffen kann ein Stuhl noch viel mehr und ganz anderes sein, als man bisher annahm.) Aber zurück zu 1898: Eine Auslegungsmöglichkeit der drei Datenparallelen wäre, dass die Postpost, als sie noch Post war, Dr. Faustroll zu Ehren erbaut wurde. Eine andere, dass die HSG eigentlich ein pataphysisches Projekt ist, es aber bis heute nicht zugibt oder selbst weiss. Da gibt es nämlich einen wesentlichen Unterschied: Schreibt man ‘Pataphysik, also mit Apostroph, ist man sich ihrer bewusst. Pataphysik ohne Zusatz jedoch weiss nichts von sich selbst. Somit fällt die HSG höchstvermutlich in die zweite Kategorie, und wenn nicht, dann wäre es der längste Spannungsbogen einer Pointe der bisher laufenden Institutionsgeschichte.
Die Post im Linsebühl wurde Anfang der 80er-Jahre aufgrund mangelnder Funktionalität als offizielle Stelle geschlossen. 1995 wurde sie vom Musiker und Druckkünstler Martin Amstutz mit einer grossen Druckpresse und dem gelebten Konzept des Postpostismus neu eröffnet. Dieses umfasst klassische Post-Dienstleistungen wie die Entgegennahme und Zustellung diverser Waren, Treffpunkt zum kommunikativen Austausch und ein breites Lager an Stempeln und Bedruckstoffen. Ausserdem erscheint (sowohl regel- als auch unregelmässig) das Wochenblatt, eine handgedruckte Einblatt-Zeitung, welche über die aktuellen Postpostgeschäfte informiert. Die grösste und sperrigste Aufgabe ist der Transport des Raumes und seiner Funktion als Kulturstätte selbst auf der Zeitachse, also vom Gestern ins Morgen. Die Gegenwartspost hat sich selbst in ihrer ursprünglichen Funktion an den allermeisten Orten aufgegeben – die Gebäude verloren ihre Grosszü- gigkeit und Schönheit, Kunden sowie Posthaltende verloren die Zeit, welche für einen Postbesuch einst mehr vorgesehen hat als reine Funktionsabwicklung.
In der Postpost wird die Treffpunktfunktion mittwöchlich gepflegt: ab 19 Uhr ist die Tür offen für alle, die sich für den Raum und die Menschen dahinter interessieren – oder wissen wollen, welcher Tag der pataphysische Kalender anzeigt. Auch die Wahl des Mittwochs ist nicht ohne Grund. Der Mittwoch respektive Mercredi ist dem Merkur geweiht, und Merkur wiederum steht für alles Mögliche: Planet, Lampenmarke, Deutsche Privatbank, Berg im Schwarzwald, Lastwagenmodell und diverse Literaturzeitschriften. Im Postzusammenhang geht es jedoch um des Merkurs göttliche Postbotenfunktion, Hermeneutik und generellen Mittelpunkt.
Der Postpost selbst geht es noch um etwas anderes: die Dinge nicht zu kommerziellem Nutzen bis zur kompletten Stumpfheit zu reproduzieren, sondern soweit es geht zu vertiefen – und sie grundsätzlich aus einer inneren Notwendigkeit heraus anzugehen. So gab es in den letzten Jahren einige Aufträge, die noch immer laufen. Spuren zu einer grünen Katze fügen sich immer wieder neu zusammen und transportieren gelegentlich wieder etwas nach draussen. Mail Art ist auch hier im Umlauf, und wann immer nötig mischt sich Amstutz in die aktuelle Stadtpolitik ein. Diesbezüglicher Schlusssatz des Postposthalters: «Der Postpostismus bemüht sich um Wissenschaftlichkeit im Sinne der ‹Pataphysik›, was durchaus als Beitrag zur leider schon wieder abgewürgten Diskussion um eine St.Gallische Kunsthochschule betrachtet werden darf.»
Dieser Beitrag erschien im Januarheft von Saiten.