Politmagazin oder Tierwelt?
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Ein neues 80-seitiges Printmagazin «für die Stadt» zu lancieren, das tönt verwegen in Zeiten der Medienkrise. Sebastian Schneider, Marion Loher und Urs Bucher, alle früher beim «Tagblatt», und Grafikerin Nicole Tannheimer haben es trotzdem gewagt. Die Vernissage ihres Magazins «Saint Gall» wurde letzten Donnerstag gefeiert, diese Woche liegt es in den Briefkästen.
Herausgekommen ist ein prallvolles Heft. Dessen Anspruch hat das Kernteam um Schneider im Editorial so formuliert: «Viele Fragezeichen stellen sich auch für den Journalismus, für die vierte Gewalt, die durch die digitale Transformation stark angeschlagen ist und offenbar ganze Bevölkerungsgruppen nicht mehr erreicht. Komplexität und Schnelllebigkeit nehmen zu, und es wird auch für gut informierte Bürgerinnen und Bürger immer schwieriger, den Überblick zu behalten und sich schnellen Veränderungen anzupassen. Dieses Magazin will diese Kurzlebigkeit durchbrechen und grösseren Themen den nötigen Tiefgang geben.»
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Das «Saint Gall»-Team: Marion Loher, Sebastian Schneider, Nicole Tannheimer und Urs Bucher. (Bild: pd)
Thematisch geschürft wird beispielsweise unter dem Dossiernamen «Der Staat, Retter in der Krise»: Im Interview sinniert HSG-Professor und Wirtschaftshistoriker Florian Schui über die Chancen und Risiken staatlicher Interventionen. Ein paar Seiten davor ist die Geschichte der Stickerei-Treuhand-Genossenschaft zu finden, die nach dem ersten Weltkrieg mit Bundesmillionen die Branche stützte – aufschlussreich.
Das liebe Steuergeld
Ein weiterer Schwerpunkt des Magazins ist die Frage «Wie kommen die Finanzen ins Lot?». Dazu liefert «Saint Gall» gleich eine Handvoll Texte, etwa ein Interview mit SP-Stadtpräsidentin und Finanzdirektorin Maria Pappa, Erkundigungen bei den verschiedenen Parteien und eine Carte Blanche von Ex-FDP-Stadtrat Fredy Brunner – wobei da nicht ganz klar ist, ob das noch zu diesem Themenblock gehört oder nicht.
Ziemlich klar dem Finanzteil zuzuordnen ist hingegen das ausladende Interview mit dem Eggersrieter Teilzeit-Gemeindepräsidenten und ehemaligen Geschäftsführer des Vereins der St.Galler Gemeindepräsidentinnen und Präsidenten VSGP, Roger Hochreutener, dessen politischer Werdegang «beachtlich» ist und dem es in Eggersriet gelang, «die angeschlagene Gemeindekasse ins Lot zu bringen», wie es in der Personenbeschreibung heisst.
Der CVPler präsentiert einige «Ideen zur Sanierung der Stadtkasse» («Gebühren senken», «Sparen ist ein kreativer Prozess», «Buchhaltungstricks») und erhält mit sechs Seiten gleich doppelt so viel Platz wie St.Gallens Finanzdirektorin Pappa, die einer Steuerfusserhöhung kritisch gegenübersteht, anders als er.
Hochreutener ist überzeugt, dass St.Gallen mit den nötigen Massnahmen auf einen durchschnittlichen Steuerfuss kommen könnte. Das Ideenrepertoire des «Sanierers», der in seiner Zeit als VSGP-Präsident auch die Kosten für die Unterbringung von Geflüchteten gern klein hielt, scheint gross zu sein. Da irritiert es fast ein bisschen, dass er ausweicht bei der expliziten Frage am Schluss, wie denn er selbst zu einer Stadtratskandidatur stünde.
Am Schluss bleiben mehr Fragen als Antworten: Was will dieses Interview? Woher kommt die Idee, dass Hochreutener die städtischen Finanzen ins Gleichgewicht bringen könnte, nur weil er das in der Agglo mal geübt hat? Will man ihn portieren? Und warum wird eine so umstrittene Persönlichkeit seitenlang hofiert statt kritisch hinterfragt?
Viele Themen, viele Tiere
Ausserdem in der ersten «Saint Gall»-Ausgabe: viele Tiere – Bienen, Kühe, eine Katze –, eine Gebrauchsanleitung fürs Mühleggbähnli, ein toll geschriebenes, aber etwas unkritisches Portrait über Lokaljournalist Franz Welte, eine Würdigung des bald pensionierten HVM-Direktors Daniel Studer samt ganzseitigem Inserat daneben und eine lesenswerte Geschichte über das Signalisationsteam der Stapo St.Gallen. Hier wird der Blick auf etwas Alltägliches gelenkt, das meist unbewusst an einem vorbeizieht. Gerne mehr davon.
Die Lektüre nimmt einiges an Zeit in Anspruch. Was zu erwarten ist, wenn man den Themen «den nötigen Tiefgang» geben will. Die Wahl der Themen ist denn auch nicht schlecht und teils durchaus naheliegend, jedoch hätte man da und dort kritischer nachfragen dürfen. Oder statt den üblichen Parteiverdächtigen auch noch einige Paradiesvögel und Normalos dieser Stadt zu Wort kommen lassen. Etwas, das wir uns alle öfters vornehmen sollten.
Auch fehlt dem Heft noch eine Gliederung. Angesichts der Themenfülle und des Umfangs würde ein klares Konzept bei der Orientierung der Leser:innen helfen. Die Grafik spiegelt wider, was auch beim Lesen schon aufschien: «Saint Gall» scheint noch ein wenig unentschlossen zu sein. Wie die Katze vor der Tür, die nicht weiss, ob sie rein oder raus will. Neuzuzüger:innenheft? Debattenplattform? Politmagazin? Tierwelt?
Im Dezember soll die nächste Ausgabe erscheinen.