Plutos Jahr
«Plutos Jahr läuft, auf dass er dereinst in die Schweiz einreisen darf. Ich bin seit Mitte April abgemeldet aus der Schweiz und angemeldet hier. Hier in Keda. Der Ort hat mich behalten. In Wellen umgeben von Hunden. Meinen drei und zusätzlich wechselnden, hilfsbedürftigen. Und wir haben Georgien bereist.» So fasst Ruth Wili ihr Jahr in Georgien zusammen. Anfang 2017 war sie zu ihrer Fussreise von St.Gallen nach Georgien aufgebrochen, auf saiten.ch hatte sie unter dem Titel «Go all the way» regelmässig berichtet. Ihr vorerst letzter Beitrag im Dezember 2018 endete: «Ich weiss noch nicht, was weiter passiert. Wir leben hier.»
Draussen dröhnt eine Säge und zerkleinert Holz für den Winter, Nachbarn schlachten gemeinsam ein Auto aus, das nun andere organspenderisch ergänzen wird. Kinder basteln mit. Und rundherum die Hunde. Vorm Balkon liegt Nüxli, das langsam ausheilende freche Dreibein, um mich mein Trio, dazu Lassy und Motsekvave im Sonnenband, das durchs Küchenfenster in sein Lieblingseck fällt. Nüxli ist fast fertig geheilt, darf nur noch zur Pflege rein, und das auch nur noch, bis die Amputationsnarbe ganz ausgeheilt ist. Zwei meiner Anvertrauten haben inzwischen ein Daheim in Deutschland gefunden, bei Lotti so umwerfend vom Leben eingefädelt wie seinerzeit bei Tetri.
Ganz vieles ist über die Hunde geschehen in diesem Jahr. Den Anfang machte, dass ich ein Arbeitsangebot vom Tierarzt in Batumi erhielt, welches mich seinerseits den Antrag für eine Arbeits- und Aufenthaltsbewilligung beantragen liess und somit «Plutos Jahr» in Gang setzte. Dann kam das Gefangenwerden meiner Kleinen durch Hundefänger, was mich mit Durmishkhan verlinkte, der mir half, sie wiederzukriegen. Und der mich wiederum fragte, ob ich nicht hier in Keda arbeiten möchte, und dazu beitrug, dass ich die Aufenthaltsbewilligung erhielt. Ich dachte da, ich würde nach Batumi ziehen, primär beim Tierarzt arbeiten.
Die Wohnungssuche war spannend. Eine Stadt, in der georgische Dauermieter rausfliegen über den Sommer, weil mit Touristinnen und Touristen um Welten mehr Geld gemacht werden kann. Ich mit sechs Hunden. Und dem Wunsch, nicht bloss toleriert und nicht Touristin zu sein, sondern ein Daheim zu finden. Ein grossartiger Garten, dafür für mich ein Loch? Ein Häuschen ohne gar nichts drin? Ein Nein von Vermietern und Wuchermieten? Nach dem Admin-Marathon folgt nun der nächste? Wofür? Meinen Lebensschwerpunkt in die Stadt verlegen, um dann irgendwann bei Giorgi zu arbeiten? Ich rede mit ihm. Und wir lassen das.
Leben mit Hunden – und Hundefängern
Das Leben mit Hunden ist wunderschön – darum geht es und nicht darum, in welche Richtung ich mich beruflich entwickeln will. Wo ich mich zuständig fühle, helfe ich denen, die Unterstützung brauchen. Und ich habe das Gefühl, ich beschreite langsam meinen eigenen Weg. Nicht wegschauen, helfen. Aber auch nicht meine Grenzen aufgeben, wieder auswildern. Üben, den Frust, die Ohnmacht und, wie so oft bei mir, die Wut auszuhalten. Zu sehen, wie gerade jetzt Nüxli so gerne hier bliebe. Nur mich einbeziehend, bleibe ich beim Helfen, wo ich es für richtig halte. Die Alternative wäre gewesen: nicht helfen, als sie zwei Operationen brauchte. Wegschauen und darauf warten, dass jemand sie «erlöst». Und jetzt wäre es einfacher, sie woanders auszusetzen, damit ich ihre «Anträge» nicht täglich erleben müsste. Aus den Augen aus meinem Sinn. Aber für sie war die Hilfe, sie ist von hier, kennt sich hier aus, hier hat sie die besten Voraussetzungen, ihr zweites Leben zu packen. Manchmal heule ich, weil es nicht aufhört. Aber eine offizielle Kastrationsrunde habe ich bei der Munizipalität finanziell bewilligt erhalten! Nun gilt es abzuwarten, dass die Säugenden abstillen.
Als meine Nachbarn die Hundefänger kommen liessen, habe ich eine Zeit gebraucht, ehe ich ohne Panik wieder spazierengehen konnte. Das war eine Horrorzeit. Inzwischen hab ich keine Angst mehr, wenn mal eins meiner Tiere alleine heimkehrt vom Spaziergang, die Nachbarn lassen sie in meine Wohnung. Und mit Nüxli haben viele mitgelitten, als sie schwer verletzt ums Haus strich, und mich hat berührt, dass sie gefragt haben, wie sie denn fressen könne, weil ich ihr einen Maulkorb überzog, damit sie sich bis zur Operation nicht selber «notoperiere». Und bei der Munizipalität und bei meinen Nachbarn ist angekommen, dass mit mir das karge Geld gezielt eingesetzt werden kann, indem wir uns für die OP auf die Weibchen fokussieren. Die Fänger nicht aus Frust zu irgendeinem Zeitpunkt und ohne lokale Ansprechperson kommen lassen, sondern möglichst zielführend.
Gerade empfinde ich mein Leben hier still in Wellen. Mehr und weniger und wieder mehr Hunde. Meist sind damit fünf Stunden des Tages vergeben. Dann schreiben oder nicht schreiben – im Reinen sein damit, dass heute ein Admin- oder Tierarzttag ist. Mehr und weniger und wieder mehr Nähe. Freundschaften pflegen.
Anfang November hatte ich eine Phase der Abstossung. Da lief Da chven vizekvet – «And then we danced» –, ein «Schwulenfilm», der im Georgischen Nationalballett spielt. Die Nachrichten waren voll davon, aber weniger mit Informationen über den Film als vielmehr Stunden und Stunden in Wiederholungsschleife mit orthodoxen Geistlichen, die ihn verurteilten. Sodom und Gomorrha waren nicht zu schade, bemüht zu werden. Was diese Bibel alles weiss. Und diese schwarzgekleideten Männer, flankiert von Rechtschaffenen, die mitschuldig dafür waren, dass die Polizei die Vorstellungen im Kino schützen musste. Da habe ich mich fremd gefühlt. Und ist etwas aufgebrochen in mir. Sehnsucht, ja Hunger nach Kultur, wie sie mich nährt. Danach, nicht aufzufallen. Stinknormal zu sein. Danach, dass nichts dabei ist, sich so einen Film anzuschauen und ohne durch ein Tabuvakuum zu gehen, über ihn zu diskutieren. Nicht, ihn verurteilt zu kriegen. Sehnsucht nach Stadt, Tiflis vielleicht, nach dem St.Galler Kinok allemal!
Eintauchen in den Kaukasus
Als ich es schaffte, mal «nur» meine drei Hunde zu haben, habe ich ein Auto gemietet für einen Monat und habe uns dieses Land erkunden lassen. Das war nach dem langen (An-)Gebundensein hier überwältigend! Endlich haben wir den grossen Kaukasus erlebt, Pluto hat mich wohl das Bild seines Lebens schiessen lassen, so eine Wonne war dieses Inhalieren des Landes. Als Touristin nun. Daran war etwas komisch, ich mag es nicht, dieses oberflächliche Durchsausen, so zumindest fühlte es sich an, im Gegensatz zum Unterwegssein zu Fuss, als ich mich als Gästin hier fühlte, als Reisende. Zugleich hat das Auto uns erlaubt, tief in die Natur einzutauchen und darin «verlorenzugehen», da wir uns ohne Gedanken an Futter, Shelter, Wasser einfach in unserem Kistchen einrollen und schlafen konnten, wo es am allerschönsten war.
Dieses Land ist so winzig, und es hat schier alles, was die Natur an Fülle anbietet. Wir haben Menschen besucht, haben auf einem Kuhfriedhof gespielt, das war wie in den Wilden Westen geworfen zu werden. Wir haben endlich den Riesenbärenklau gesehen, eins meiner «musts» in Georgien, haben Gletscher erwandert, wunderbare Menschen kennengelernt, ein Kloster in der Wüste an der Grenze zu Aserbaidschan besucht. Ich habe wilde Wildnis für uns entdeckt, ein Gefühl von Wucht der Natur ähnlich dem in den Alpen bei ungutem Wetterwechsel, nur dass es hier nicht die Dimension von Gefahr hatte, bloss die Kraft des Eindrucks. Wir haben die dünnstbesiedelte Region erlebt, wo die Ortschaften im Grün verloren gehen.
Und dann haben wir Motsekvave eingeladen, der jenseits von Gut und Böse am Strassenrand wankte. Ich konnte nicht vorbei an ihm. Und aus der erkundungssüchtigen Touristin wurde wieder Ruth, involviert. Und es war eine tiefe Freude, zu spüren, dass ich nicht für ihn unser beglückendes Reisen beschleunigte oder gar abbrach, sondern ab Minute eins den Kompass ausrichtete und die Spur fand, ihn einzuladen, das Leben mit uns geniessen zu lernen. Er müsse es packen, bis wir in Batumi seien, für alles andere sei gesorgt. Ich kam atemlos daheim in Keda wieder an, es war herausfordernd, dieses wacklige, nach Aufgabe riechende Wesen mit dabei zu haben. Ich wollte platzen vor Dankbarkeit und Stolz auf meine Drei, dass wir das geschafft haben! Auf so winzigem Raum wie diesem Auto, wo kein einander Ausweichen möglich war.
Und seither schreibe ich intensiv (weiter), fange die Erinnerungen dieses letzten Jahres hier ein. Turne weiter durch die Administration, besuche mir liebe Menschen. Und tanke Spaziergang für Spaziergang die Fülle, die mich mit so einem Rudel umgibt. Das ist etwas, was mir einzigartig kostbar erscheint hier. So eine Fülle ist in der Schweiz gar nicht erlaubt. Ich erlebe Georgien als nach oben und unten grenzenlos. Dinge können sich hinziehen, bis sie dir zerfitzelt in den Kapillaren krepieren wollen. Ich habe es erlebt beim Beantragen meiner Arbeits- und Aufenthaltsbewilligung. Dann flutet mich ein abstruses, administratives Heimweh. Und zugleich ist es ein Land, das eine Freiheit erlaubt, der die durchreglementierte Schweiz den Kopf abhaut.
Ruth Wili, 1981, war bis Ende 2016 als Inspizientin am Theater St.Gallen tätig. Anfang 2017 ist sie aufgebrochen zu einer Fussreise von St.Gallen ans Schwarze Meer. Mit dabei: ihr Hund Homer – sowie Pluto, in Bulgarien zugelaufen, und später in Georgien Mimi und Tetri, die Hunde Nummer drei und vier. Auf saiten.ch hat Ruth Wili seit 2017/18 von ihrem Weg und den Erfahrungen im Sehnsuchtsland Georgien berichtet.