Plötzlicher Hype um Serge
Das Helmhaus der Stadt Zürich feiert Serge Stauffer mit der Ausstellung «kunst als forschung». Der 1989 verstorbene Kunsterzieher hatte auch in St.Gallen seine Ableger.
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An einem warmen Herbsttag vor dreieinhalb Jahren fuhr ich nach Zürich. Im Kreis 4 an der Rotwandstrasse trat ich in den recrec-shop. Der Ladeninhaber Veit Stauffer hütete im Keller unter dem Ladenlokal den umfangreichen Nachlass seines Vaters Serge Stauffer. Wir unterhielten uns lange darüber, wie unverständlich es ist, dass jemand so Bedeutender wie Serge einfach in Vergessenheit gerät. Serge beeinflusste in den Aufbruchjahren eine ganze Generation junger Kunstinteressierter unter anderem im Umfeld der Kunstschule f+f. Serge hatte Marcel Duchamp noch persönlich getroffen. Aber bei ihm hörte es mit den Surrealisten-Highlights Raymond Russel, Alfred Jarry und dem Comte de Lautréamont nicht auf. Serge fuhr mit seiner Dia-Doppelprojektion in der Kunst bis zur Renaissance zurück.
Tatsächlich war das Interesse an Serges Konzeption der «kunst als forschung», nach seinem Krebstod im Alter von 60 Jahren, lange Zeit gering. Doch dann im Februar 2013 ist er plötzlich da, der Hype um Serge. An der Vernissage am Valentinstag ist das grosse Haus an der Limmat gestossen voll von einem echten Generationenmix. Der Ausstellungskatalog kommt stylisch daher, keine Spur von ausgebranntem Rebellentum. Seine versammelten Texte zeigen, dass Serge auch heute noch etwas zu sagen hat: Kunst als Forschung ist in aller Munde, aber , wie die «Woz» schreibt, «verstand Stauffer ‹kunst als forschung› gerade nicht als Anbiederung an akademische Traditionen oder gar als Imitation ihrer Methoden, sondern als Bekenntnis zu reflektiertem Kunstschaffen und zur Kulturrevolte mit offenem Ausgang.» Für Serge war es selbstverständlich, dass bloss das kreativ ist, was allen nützt. Zur heutigen Beschwörung der Kreativen als der Wirtschaftsmotor der Zukunft etwa, hätte Serge Stauffer, wenn er noch leben würde (er wäre jetzt 83 Jahre alt) einiges zu sagen. Seine 16 Thesen zur Kunst zum Beispiel, abgedruckt im Ausstellungskatalog, sind noch immer gültig.
Die Ausstellung dauert noch bis zum 14. April.
Nach meinem Besuch im recrec-shop im Oktober 2009 entstand dieser Aufsatz:
Labyrinthspiele
Kunst als Forschung tönte verheissungsvoll. Es lockte uns an wie ein Süssgetränk die Wespen im Altweibersommer im Gartenrestaurant. Obwohl wir mit der Wirtschaftsuni nichts, aber auch gar nichts am Hut hatten, zog es uns im Wintersemester 1979 hinauf auf den St.Galler Rosenberg in den Hörsaal der Handelshochschule in die Vorlesungen von Serge Stauffer. Als es für das Jahr 1981 um die Fortsetzung ging, war die zuständige Kommission der HSG aber mit der Weiterführung nicht mehr einverstanden.
Serge Stauffer war eine aussergewöhnliche Persönlichkeit, er betätigte sich neben seiner kunstgeschichtlichen Lehrtätigkeit auch noch als Fotograf, Übersetzer, Schriftsteller, Künstler, Forscher und Feminist. Ich wurde den Verdacht nie los, dass er den Verantwortlichen an der HSG irgendwie nicht genehm war. In meinem Privatarchiv befindet sich die Abschrift eines auf den 21. Mai 1980 datierten Briefes der zuständigen Universitätskommission: «…gleichzeitig muss ich Sie im Namen der Kommission darauf hinweisen, dass eine weitere Fortsetzung Ihrer Veranstaltungen über das kommende Semester hinaus nicht vorgesehen ist. Im Bereich der kunstorientierten Vorlesungen möchte die Kommission eine grösstmögliche Varietät gewährleisten und im Sinne eines Dienstes an Stadt und Region immer wieder neue Impulse an interessierte Kreise vermitteln.»
In jenen Jahren verabschiedete man sich endlich auch in St.Gallen von den Gewissheiten einer Kunst, die aus gerahmten Bildern, abgegriffenen Symbolen und dem Mix aus kaltem Krieg und geistiger Landesverteidigung bestand. Die Umbruchzeit um 1980 versprach ein Weiterkommen jenseits allgemein akzeptierten guten Geschmacks und systemkonformer Wohlanständigkeit. Trotzdem müssen sich die kunstinteressierten Subkulturellen, zu denen ich gehörte, als Glied in einer Verkettung mit kunstgeschichtlicher Traditionen gesehen haben, sonst hätte sich die handvoll Szeneleute nicht auf das Abenteuer mit Serge Stauffer eingelassen.
Der HSG-Student Roberto Buner hatte die Sache eingefädelt. Er kannte Serge von dessen Lehrtätigkeit an der Kunstschule f+f in Zürich. «Ein einziger Dia-Abend bei Serge Stauffer war spannender als das ganze Jahr akademische Kunstgeschichte», schreibt ein anderer ehemaliger Zürcher Student Serges im Internet. So war es. Das angekündigte Kunstlabor funktionierte in St.Gallen im sterilen HSG-Hörsaal aber nicht so recht und wir HörerInnen kamen «nur» in den Genuss von kunstgeschichtlichen Doppelprojektionen.
Der zusammen gewürfelten Haufen der HörerInnen bestand neben uns paar Aussenseitern, aus KünstlerInnen wie Roman Signer und Lucie Schenker, denen zum Teil grosse Karrieren bevorstanden. In Erinnerung bleibt mir unter der Hörerschaft auch der damals im Pensionsalter stehende Gestalter Willy Baus. Der frühere Schriftlehrer an der St.Galler Kunstgewerbeschule hatte sich in seiner Jugend zu Fuss nach Dessau aufgemacht und ein Studium am Bauhaus absolviert, wobei er sich vor allem von rohen Randen ernährte.
Das Projekt Kunst als Forschung an der HSG scheiterte schliesslich endgültig. Der Hörsaal war einfach nicht der richtige Ort dafür. Aus diesem Grund hielt Serge Stauffer dann im Wintersemester 1979/80 Vorlesungen nur über das Wek und die Person von Marcel Duchamp. Der Faszination an Duchamp und seinem labyrinthischem Lebenslauf kann sich bis heute keine Künstlergeneration entziehen. Serge Stauffer hatte ihn noch persönlich getroffen und mit ihm korrespondiert. Mit Serge vermittelte die bedeutendste Kapazität im deutschsprachigen Raum uns St.Galler HörerInnen das Werk des Jahrhundertkünstlers. Kaum zu glauben: Etwas derart Fulminantes durfte gemäss der Hochschulkommission wegen Verhinderung «von grösstmöglicher Varietät» nicht fortgeführt werden.
Die Polizei riegelte die Ankerstrasse im Zürcher Stadtkreis 4 ab, damit die russische Präsidentengattin Frau Medwedew mit Roswita Merz, der Frau des Schweizer Bundespräsidenten, ungestört zusammen shoppen konnte. In der benachbarten Rotwandstrasse beabsichtigte ich, mir im Rec-Rec-Plattenladen die neuste CD von Père Ubu zu besorgen, um mich für deren Konzert nächstens im Palace in St.Gallen vorzubereiten. Als ich durch die Türe trat, pinnte Ladeninhaber Veit F. Stauffer gerade das neuste Palace-Plakat an eine freie Stelle an den voll gepflasterten Wänden. Das Bild mit David Thomas von Père Ubu neben einem gestrandeten Kahn gefiel ihm gut. Für das Palace hegt er Sympathien. An ein Konzert der Freiwilligen Selbstkontrolle ist er extra einmal hingereist, wie Veit erzählt.
Veit ist Serge Stauffers Sohn. Dieses Jahr hatte Veit gleich zwei runde Gedenktage an seinen Vater zu bewältigen. Am 8. Juni jährte sich dessen Geburtstag zu 80. Mal und vor 20 Jahren, am 17. September 1989, starb Serge an Lungenkrebs. Veit hält das Andenken an seinen Vater hoch. Wer genau hinschaut, entdeckt im vollgestopften Plattenladen zwischen den Musikplakaten hier eine verbleichte fotokopierte Aufnahme von Serge im gestrickten Skipullover am Schreibtisch, dort auf einem Gestell steht in seiner Übergrösse, Serges Buch «Marcel Duchamp. Die Schriften». Veit ist Besitzer der Restauflage und verkauft im Durchschnitt alle zwei Monate ein Exemplar des ursprünglich 400 Franken teuren Buches. Auch mit bald dreissig Jahren nach Erscheinen ist es überhaupt noch nicht veraltet. «Bei gleichbleibendem Verkauf reicht es noch für etwa fünf Jahre, dann ist Schluss.»
Und wo ist Serges Nachlass? Die Lehrbücher über seine private «Revolution», rückwärts als Palindrom gelesen «Noi – tu – Lover», etwa? Veit zeigt mit dem Finger auf den Fussboden. Da unten im Keller. Ein ehrfürchtiger Schauer geht durch mich hindurch. Zwei Anläufe zu einer Buchveröffentlichung des schriftstellerischen Werkes von Serge Stauffer hat Veit bisher unternommen. Beide sind gescheitert. Irgendwie ist seine Zeit einfach noch nicht gekommen. Vielleicht schafft es das Aarauer Kunstmuseum einmal eine Ausstellung über das vielfältige Werk Serge Stauffers einzurichten. Vage Pläne bestehen.
Weiter hängt im recrec-shop die Farbreproduktion eines Wimmelbildes von Serges Jugendfreund André Thomkins mit handschriftlicher Widmung des Künstlers an Serge und seine Frau Doris. Auf einer kreisrunden Scheibe häufen sich Zeichen und Bilder ins Unendliche. Man denkt an eine moderne Version von Hieronimus Boschs Garten der Lüste. Serge war Thomkins – noch nicht ganz 20-jährig – 1947 zum ersten Mal begegnet. Das gemeinsame Interesse an französischer Poesie brachte sie zusammen: Appollinaire, Jarry, Lautréamont, Michaux, Roussel. Um 1950 spielten die beiden zusammen experimentelle Musik. André Thomkins wurde ein bekannter Künstler und Serges letzte Arbeit war nach dessen Tod 1986 eine «Computer Plastik», in der Daten und Zeichen aus dem Kosmos seines Freundes gesammelt waren. Wie es im Nachruf auf Serge vom 20. Oktober 1989 in der «Wochenzeitung» heisst: «Zigtausend Arbeiten waren zu datieren, der Briefwechsel mit kriminalistischen Methoden zu entschlüsseln – inhaltlich absolut präzise, damit alles ganz spielerisch erscheint, menschlich fassbar, in einer Form der lockeren Präzision.» Das Werk ruht unvollendet im Kellerdepot an der Rotwandstrasse. Die André Thomkins Retrospektive mit dem Titel «Labyrinthspiele» von 1990 in Berlin, an der er mitgearbeitet hatte, erlebte Serge nicht mehr.
Von Marcel Duchamp heisst es, dass er sich nach seiner unvergleichlichen Schaffensperiode in den 1910 und 1920er Jahren rückwärts entwickelte und wieder «normal» wurde. Wie wenn es sich um eine andere Person handelte, kopierte er in seinen späteren Jahren die eigenen Werke mit biederer Radiertechnik. Auch zu Serge Stauffer würde kein Bild besser passen als das Labyrinth. Wie ich da im CD-Shop an der Rotwandstrasse mit Veit plaudere, stehe ich wieder wie damals am Eingang zu Serges Labyrinth. Obwohl seit zwanzig Jahren nicht mehr unter uns, ist Serge Gedankengut noch sehr lebendig. Mit seinem grandiosen Buch «Die Schriften» , von dem ich ein Exemplar besitze, habe ich erst gerade wieder gearbeitet für den Vortrag «Der Spielfilm Armageddon im Vergleich zu Marcel Duchamps grossem Glas». Fit für die nächste Runde im Labyrinthspiel.