Pastellige Melancholie
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Lockdown is over. Langsam, aber sicher tasten wir uns wieder ins gesellschaftliche Leben. Alles noch etwas fragil. Umarmen wir uns schon wieder oder nicken wir noch? Sieht man mir an, was die letzten Monate mit mir gemacht haben? Sehe ich es den andern an? Und waren schon immer alle so gesprächig?
Der Raum zwischen Nextex und «El Gato Muerto» im Erdgeschoss des Kulturkonsulats ist gut gefüllt am Donnerstagabend. Am Eingang liegt eine Corona-Tracing-Liste.
Drei Dinge gleichzeitig finden hier heute statt: die Finissage von «Work Life Balance», der gemeinsamen Ausstellung von Barbara Signer und Michael Bodenmann, die Vernissage des Buchs Research for Peace Love Warrior Dragon von Michael Bodenmann (Jungle Books, St.Gallen) und die Plattentaufe von I haven’t been everywhere but it’s ok von Michael Bodenmann und Bit-Tuner Marcel Gschwend – samt Liveset.
Und dann: sind alle frei
Showtime ist um 21 Uhr und ich bin ganz froh, kann ich im Nextex in einer Ecke sitzen und zum Sound schwelgen, bevor es ins Getümmel geht. Das Wort «sphärisch» ist ausgelutscht und überbewertet, in diesem Fall aber angebracht. Eine Stunde dauert Bit-Tuners Performance. Die kitschige Geschichte dazu könnte etwa so lauten – oder ganz anders:
Die Stadt, ein Raum, leuchtend in Cyan, Magenta, Koralle. Alles pulsiert. Kleine Wesen machen sich an die Arbeit. Es wird etwas geschmiedet, gemächlich, aber konstant. Vielleicht die Kette, die die Welt endlich zusammenhält?
Am Anfang sind nur wenige am Werk, mit der Zeit kommen immer mehr dazu. Stimmen mischen sich ein. Man hat sich lange nicht mehr gesehen. Arbeitspause in der Weltenschmiede.
Dann geht es weiter, doch was eben noch ein Eisengeschmeide war, beginnt nun seine Form zu verändern und wird weicher, zarter, elastischer. Und sinkt tief in alle Wesen ein, bis sie selber die Kette sind, die die Welt zusammenhält. Sich gemeinsam dem Übel stellen, das von oben kommt, über ihnen kreist wie ein Schwarm Robokopter, und alles Leben klein macht, erdrücken will.
Doch die Unteren bäumen sich auf in heller Einigkeit, vertreiben das Übel von oben. Recken die Fäuste im Takt, überrascht von ihrer gemeinsamen Kraft, und sie vergessen, was war, versöhnen sich für die Zukunft und preschen mutig voran. Bis die Welt einen neuen Ruhepuls hat. Und dann: sind alle frei.
Die 45-minütige Aufnahme auf I haven’t been everywhere but it’s ok ist während der Vernissage von Bodenmanns gleichnamiger Ausstellung in Peking 2015 entstanden. Bit-Tuner umrahmte damit Bodenmanns Installation Flat Fantasy Landscapes; kleine Plastilinlandschaften, die er während eines Aufenthalts in Island im gleichen Jahr gemacht hatte und die in Peking als gescannte Prints den ganzen Boden bedeckten.
Erhältlich ist die Platte hier, reinhören kann man hier.
Von Hangzhou an die Grenze zu Kasachstan
Der andere freudige Anlass an diesem Abend ist die Vernissage von Bodenmanns Buch, das er zusammen mit Jungle Books (Larissa Kasper, Rosario Florio, Samuel Bänziger und Oliver Hug) realisiert hat. Ein Bilderbuch im wahrsten Sinn, ein «assoziatives Reisebuch», wie Bodenmann sagt. Darum auch die alten Postkarten aus den 1970er-Jahren, die da und dort wie als Lesezeichen ins Buch reingelegt wirken.
Zu sehen sind Lichter und Farben, Bäume und Berge, Gebäude und Verkehr, Märkte und Rauch. Festgehalten mit einem journalistischen Auge. Die Farben sind warm, rosa, orange, gelb.
China sei ihm damals ziemlich melancholisch und nostalgisch vorgekommen, sagt Bodenmann, was auch damit zu tun habe, dass es Herbst war und das Sonnenlicht goldig. Irgendwas sei damals im Umbruch gewesen. Mehr Einordnung will er nicht geben. «Ich wollte ein Gefühl festhalten und ausdrücken, keine Bestandsaufnahme des Landes machen. Das wäre anmassend.»
Michael Bodenmann: Research for Peace Love Warrior Dragon. Jungle Books, St.Gallen 2020, CHF 32.–
Entstanden sind die Analogfotografien alle 2012, als Bodenmann während seines Studiums an der ZHdK ein halbes Jahr in China weilte. Seither war er über ein Dutzend Mal in China und Japan. Im Rahmen einer Studienreise mit der China Art Academy ist er damals von Hangzhou quer durch China an die kasachische Grenze gereist – und hat den Weg dahin mit seiner Contax G2 festgehalten.
Für das Buch hat er zuerst einen «Bildteppich» erschaffen, eine fast 3×3 Meter grosse Fläche mit allen Kontaktabzügen. Dieser Teppich wurde anschliessend zerschnitten und im Format der Buchseiten wieder aneinandergereiht. Darum sind manche Bilder angeschnitten, manche wiederholen sich. Wenn man die einzelnen Buchseiten herausreissen und nebeneinanderstellen würde, ergäbe sich wieder der metergrosse Bildteppich.
Dieses Konzept führt dazu, dass das Buch eine Art Beat hat, einen Puls. «Und es ist demokratischer», sagt Bodenmann, «weil man so nicht nur zwei oder drei Bilder einander gegenüberstellt, die dann eine vermeintliche Geschichte erzählen, sondern die ganze Fülle unkommentiert zeigen und wirken lassen kann.»
Research for Peace Love Warrior Dragon hat etwas Romantisches, ähnlich wie die kleine Bar «El Gato Muerto», die im Rahmen der Ausstellung «Work Life Balance» die letzten Wochen geöffnet hatte. Das Buch hat einen pastelligen Groove, angefangen beim Cover und dessen sanfter Haptik. Es lädt ein, darin zu blättern, sich in diese fremde Welt zu begeben und unwissend zu bestaunen.
Wer dennoch ein paar erklärende Worte dazu braucht, findet am Anfang ein ganz kurzes Vorwort von Gabrielle Schaad. Und am Schluss einen lesenswerten «Swoosh» von Clifford E. Bruckmann – seine persönliche Reiseerzählung aus China, die eigentlich nichts mit den Bildern im Buch zu tun, aber doch so viel mit ihnen gemein hat.