Passiv-aggressives Pastell

Es gibt einen Punkt des Aufräumens, an dem man merkt, dass man gerade zu weit geht. Und trotzdem kann oder will man nicht mehr aufhören und ergibt sich dem Ordnungsrausch, dem sukzessive sämtliche einst geschätzten Dinge zum Opfer fallen, weil sie nicht der neuen übergeordneten Ästhetik entsprechen. Alles muss plötzlich rechtwinklig ausgerichtet, farblich abgestimmt und sowohl im Detail als auch in der Vollraumansicht harmonisch sein.
Das einzige Problem auf diesem Gipfel der Perfektion: Man muss den Raum als Mensch danach verlassen. Die organische Unordnung eines lebendigen Wesens stellt eine Gefahr dar für die austarierte Endgültigkeit der Dinge. Bleibt man, wird es ein endloser Kampf gegen sich selbst. Weil man nun aber schlussendlich meistens wohnt, um zu leben und nicht umgekehrt, geht der Prozess der Ordnungsoptimierung früher oder später wieder in Zerstörung und Chaos über. Irgendwo an dieser Schnittstelle befindet sich die Rauminstallation «Indoor Life» von Valentina Stieger.
Tischbeinevolution
Am Anfang ist fast alles weiss. Ein Tisch, der seinem ursprünglichen Wesen entflohen ist, klebt als pures, weisses Gestänge an der weissen Wand und sieht aus wie ein DIN-genormter Prototyp für eine futuristische Stabheuschrecke. Seltsam karg und offensichtlich zweckfrei – und trotzdem oder gerade deswegen entsteht Raum für Poesie und Humor.
Valentina Stieger – Indoor Life: bis 2. Dezember
Noch befinden wir uns im Zwischengang, der die beiden grossen Ausstellungsräume in der Kunsthalle verbindet. Die groteske Wirkung der Wandstangenskulptur wird unterstützt durch den atmosphärischen Wechsel aus dem ersten Raum, in dem Renato Leotta eine wortwörtliche Sandsammlung zeigt. Auf der anderen Seite des Ganges steht das gleiche Vierkantmetall-Gestänge in anderer Ausformung auf durchschnittlicher Tischhöhe und zieht sich der Wand entlang. Die erste Assoziation: Absperrung. Eine designte Absperrung zwar, edel und hochwertig, aber in ihrer Gesamtwirkung trotzdem ein Verbot.
Folgt man der Sperrstange, landet man im grossen Raum. Ein Raum, in dem offensichtlich Raum an sich eine grosse Rolle spielt. Der Titel der Ausstellung verrät das bereits: «Indoor Life», frei übersetzt entweder drinnen leben, Innenleben oder gelebter Innenraum. Das Element der Stangen zieht sich weiter, Wachsplatten kommen hinzu, Seile und eine grosse Glasplatte, die zumindest an einer Stelle die autonomen Stangen wieder zu einem Tischmoment zusammenführt.
Alles am exakt richtigen Platz
Auf einer emotionalen und visuellen Wahrnehmungsebene fällt zuerst auf, wie wunderbar das alles ausgeglichen ist. Ohne zu wissen, warum genau und auf welcher ästhetisch-physikalischen Erkenntnistheorie fussend, spürt man, dass hier alles am exakt richtigen Platz liegt. Was den Kreis zum Anfangsszenario der absoluten Ordnung schliessen würde – wären da nicht die sich anbahnenden Zweifel und Anzeichen der lauernden Zerstörung.
Diese materialisiert sich unter anderem in einem Element, welches schon im Gang auftaucht: vermeintlich lose gestreute und zufällig abgestreifte weisse Socken. In zwei von ihnen stecken zusammengerollte Interiordesign-Magazine. Eine weitere Metaebene von Design? Ein loses Zitat? Die letzten menschlichen Überreste in einem komplett synthetisch bestückten Wohnzimmer?
Auch die Wachsplatten sind mehr suspekt als harmonisch. Sauber geschnittene Rechtecke mit glatter Oberfläche und unterschiedlichen Pastellverläufen, von weitem leicht mit überdimensionalen, ungestalteten Seifen zu verwechseln. In ihnen stecken Seile aus verschiedenen Materialien. Nur eines haben sie gemein: Sie sind aus nicht-brennbarem Material. Alles in allem könnten sie als das dysfunktionale Gegenstück zu gemütlichkeitsstiftenden Dekokerzen durchgehen.
Das Zusammenspiel aller Elemente erinnert auch an modulare Möbelsysteme, die zwar suggerieren, dass man sich mit ihnen individuell einrichten kann, sich aber gleichzeitig durch grösstmöglichen Minimalismus jeglicher Handschrift entziehen. Fragen rund ums Wohnen und die Ästhetik alltäglicher Infrastruktur haben Valentina Stieger, die St.Galler Künstlerin mit Jahrgang 1980, schon in früheren Arbeiten beschäftigt. Materialitäten, Dimensionen und Strukturen spielen die kühlen Hauptrollen, und zwischen der konzeptionellen Strenge entstehen seltene Gefühle.
Wäre diese Ausstellung ein Musikstück, dann wäre es definitiv Ambient, durch und durch konstruierte Beats mit phantastisch-toxischen Farben im Untergrund.
Dieser Beitrag erschien im Novemberheft von Saiten.