, 15. September 2023
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Passiert uns allen

Warum Saiten-Kolumnistin Anna Rosenwasser nervös war wegen einer Lesung. Und am Schluss ebendieser mit einem selbstgemalten Plakat auf die Strasse gegangen ist.

Vor einer dreistelligen Zahl an Menschen zu reden, macht mich nicht allzu nervös. Vor Kameras und Mikrofonen zu reden, macht mich auch nicht mega nervös. Vor Leuten zu reden, die Doktortitel und Status haben, macht mich ebenfalls kaum nervös. Aber vor Jugendlichen – ui. Schwierig. Was, wenn sie mich uncool finden? Schlimmste Vorstellung. Was, wenn Teenager beschliessen, ich sei cringe? Mein Ende.

Während einzelne queere Teens reintröpfelten, stand ich also so verkrampft da, als hätte ich was zu befürchten. Ein recht maskulin aussehendes Jungs-Trio kam rein, und ich sorgte mich, ob sie wohl nicht mitgekriegt hatten, dass die Lesung, die ich heute geben würde, queer und der Jugendtreff heute nicht regulär offen war.

Anna Rosenwasser, 1990, wohnt in Zürich und ist freischaffende Journalistin. Ihre gesammelten Kolumnen erschienen als Rosa Buch im März beim Rotpunkt-Verlag in Kooperation mit Saiten.

Als ich dann mit meinem Buch im weichen Jugendtreff-Sofa versank, war ich raus aus meinem nervösen Blues. Vor mir sassen nicht feindselige Jugendliche, sondern junge queere Menschen, die mich freundlich anschmunzelten. Zuvorderst, mit regenbogenfarbenem Enthusiasmus in ihren Äuglein: die drei Jungs, die ich nur Minuten zuvor noch für nicht-queer gehalten hatte, einfach weil sie so aussahen, wie sie aussahen. Passiert uns allen.

Die Lesung ist dann auch passiert. Ich finds immer komisch, das als Autorin rauszuhauen, aber: Ich glaube, sie war schön. Ich vergass die Frage, ob ich cringe war. Und die Antwort darauf auch. Am Ende hingen wir alle noch rum, und ich nahm hervor, was ich noch eilig mitgenommen hatte von zuhause: ein blankes Stück Karton.

Im Anschluss an die Lesung würde nämlich unweit des Jugendtreffs eine kleine Demo für queere Rechte stattfinden, und ich hatte den Slogan «Protect Trans Kids» auf einem Schild mitbringen wollen und war zu spät dran gewesen, um es noch zuhause zu beschriften. Momentan werden vor allem junge Leute, die realisieren, dass sie trans sind, dämonisiert und aktiv gefährdet. Das hat katastrophale Folgen, die ich hier nicht in Zahlen auslegen will, weil die Zahlen Suizidraten sind. Stattdessen will ich Schutz fordern: Schutz, damit jeder Mensch jeden Alters sich selbst sein kann. Trans Menschen sich selbst sein zu lassen, ist Suizidprävention.

Zehn Minuten später besah ich besorgt mein Schild. Ja, da hatte ich gerade «Protect Trans Kids» draufgeschrieben, aber so schräg und zerdrückt, dass man es fast nicht lesen konnte. «Farbe würde da helfen», sagte eine jugendliche Person neben mir. «Ja, dann kann mans besser lesen», sagte wer auf der anderen Seite des Tisches, und eine Handvoll Teenager trat heran, um sich das Malheur zu besehen, und sie fragten mich, ob sie die Buchstaben ausmalen dürften.

Als ich nach wenigen Minuten an den Tisch zurückkehrte, war das Plakat lesbar: «Protect Trans Kids» stand da, in den Farben der Trans- und der Nonbinär-Flagge. «Dürfen wir unterschreiben?», fragten sie, ich nickte, sie setzten ihre Namen, ihre eigens gewählten, echten Namen, klein und fein zwischen die grossen Buchstaben. Ich nahm das Schild mit. Und protestierte für die Rechte von Trans Kids mit einem Schild, das mir trans Kids gemalt hatten.

 

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