Opfer der «sauberen» Schweiz
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Es sind verstörende Sätze, gerade in ihrer Einfachheit. «Da redest du nicht darüber, da schämst du dich.» Oder: «Ich habe mir geschworen: Nie mehr fasst mich jemand an.» Oder: «Am schlimmsten war die Einsamkeit.»
Mario kommt als Waisenkind aus Italien fünfjährig zu einer Adoptivfamilie nach Thalwil, die mit ihm nicht zurande kommt, ihn schlägt, ihn schliesslich weggibt. Er gerät in die Mühlen der «administrativen Versorgung», landet mit acht Jahren im Erziehungsheim Knutwil, und was er dort an Erniedrigung erlebt, an sexuellem Missbrauch und schwärzester «Pädagogik» durch die Patres, die das Heim führen, ist die Hölle.
Fabian Müller spielt Mario: ein packender Erzähler, der sich durch alle Katastrophen der Kindheit seinen Charme und Witz erhalten hat, der in Dialekt fällt, wenn er poltert und anklagt, und dann wieder in kalter Präzision schildert, was er erlebt hat.
Der richtige Mario hat im Frühsommer an einer denkwürdigen Matinee in der Lokremise aus seinem Leben erzählt; frappierend, wie der Schauspieler dessen Tonfall und Emotionalität trifft. Und so ein Schicksal lebendig macht, das dem Publikum nahegeht.
Kein Platz für Unangepasste
Das doppelt Verstörende: Mario war kein Einzelfall. «Das Böse», wie er es nennt und in der Person des riesenhaften Paters Richard über sich ergehen lassen muss, hat viele Namen und Gesichter in diesem Stück. Entstanden ist das Schauspielprojekt aus Recherchen auf der Grundlage der Forschungen der Unabhängigen Expertenkommission, die das düstere Kapitel aufgearbeitet hat. Premiere war Ende Mai, jetzt spielt das Theater das Stück als Wiederaufnahme nochmal bis zum 20. Dezember.
Die «Banalität des Bösen» auf St.Galler Art: Der Gemeindeammann von Altstätten stellt bei der aufmüpfigen Carol schleimige Fragen, die Mutter ist überfordert, der Stiefvater ein Säufer, die Vormundschaftsbehörde auf der Seite der Erwachsenen. Carol haut aus dem Rheintal ab nach St.Gallen, geht ins «Aff», wird wieder nach Hause gezerrt, in die Fabrik gesteckt.
«Ich wollte leben», sagt sie, und: «Für mich war in dieser Familie kein Platz.» Auch sonst nirgendwo – 18-jährig, am 13. März 1970 landet Carol in der Frauenstrafanstalt Hindelbank. «Ich hatte nichts verbrochen, ich wurde von keinem Gericht je verurteilt», sagt sie und weigert sich, «für euch die Gefangene zu spielen, die keine Gefangene ist».
Im Fall der Jenischen Uschi greifen die Bündner Behörden gleich bei der Geburt ein und sorgen dafür, dass sie aus der «vagantischen Familie» weggenommen wird. Auf der Karte hinten an der Wand zeigen Pfeile die Stationen ihrer Kindheit und Jugend: 26 Heime, Pflegefamilien und Anstalten. Die Pfeile treffen in Herz. Als Uschi Jahrzehnte später ihre Akten zur Einsicht bekommt, bricht sie zusammen, denkt an Suizid wie damals schon als Kind, als sie sich die Pulsadern aufschneiden wollte. Ihre Einsicht: «Ich hatte nie eine Chance».
Heimleitungen, Gemeinde- und Vormundschaftsbehörden, Gefängnisdirektoren, Polizei, Gerichte und Psychiater, die wie im Fall des Münsterlinger Klinikdirektors Roland Kuhn die Opfer für Medikamentenversuche missbrauchten: Die «administrative Versorgung» hatte schweizweit System, von 1872 bis 1981, als das entsprechende Gesetz geändert wurde. Rund 60’000 Frauen, Männer und Kinder sind ihm zum Opfer gefallen.
«Unkraut»: So wird Alfred Siegfried, der Gründer der erst 1973 gestoppten Knebelungsaktion «Kinder der Landstrasse», im Stück zitiert. Zur Rechenschaft gezogen wurde er nie.
Verminte Seelen, Schauspielprojekt: 28. November und 8., 11., 14., 17. und 20. Dezember, Lokremise St.Gallen
Sparsame Bilder
Das Stück erzählt die Geschichten von Uschi (gespielt von Birgit Bücker), von Carol (Diana Dengler), von Mario (Fabian Müller) und in Bruchstücken von weiteren Opfern. Pascal Pfeuti, Bruno Riedl und Marcus Schäfer spielen die zahlreichen sonstigen Rollen, verkörpern den «Apparat», aber auch namenlose Betroffene; grau in blau ist das Einheitstenü.
In atemloser Folge verschlingen sich die Biografien, wachsen zusammen zu einer einzigen grossen Geschichte der Opfer einer «sauberen» Schweiz, in deren Logik kein Platz war für Benachteiligte, brüchige Familien, unkonformistisches Verhalten oder Armut.
Trotz aller Rabenschwärze, trotz allem Schwarzweiss drückt Verminte Seelen nicht auf die Tränendrüsen, ist frei von Moralin und Sentimentalität. Regisseurin Barbara-David Brüesch, ihr Ausstattungsteam (Markus Karner, Heidi Walter, Christian Müller) und ihr starkes Ensemble vermeiden alles Plakative.
Sie setzen auf die Kraft des Authentischen und übersetzen es in sparsame Bilder: die Pfeile, die auf die Heimschweiz sausen, das Schleppen von Kistenstapeln, die roten Kinderpüppchen, mit denen Uschi ihre Vergewaltigungen «dokumentiert», die Pingpong-Bälle, die von der Decke prasseln, den Boden unsicher und das blosse Gehen zum Eiertanz machen.
Und zwischendurch singt das Ensemble «Chumm mir wei ga Chrieseli günne» oder «Anneli wo bisch geschter gsii» – die «guten alten» Kinderlieder scheppern hier noch einmal anzüglicher, als sie es sonst schon tun.
Auf der mit Paletten dürftig ausgestatteten Bühne gibt es keinen Ort, an dem einem wohl wäre. «Muusbei-elei» sei sie gewesen bei all den Befragungen, als sie endlich ihren Pflegevater anzeigte wegen Vergewaltigung, sagt Uschi. Verminte Seelen ist ein respektvoller Versuch, die Opfer zumindest im Nachhinein nicht allein zu lassen mit ihrer Geschichte.