, 18. Oktober 2019
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Olma: Wo die Rückschweiz stickt

Die IG Volkskultur ist Ehrengast an der diesjährigen Olma. Spitzensticken und Schelleschötte in Ehren – aber mit dem Volk und der Kultur der real existierenden Schweiz hat das nichts zu tun.

Am 15. Oktober 1989 schmurgelt im St.Galler Gaiserbahnhof ein letztes Mal die Zündschnur. 35 Tage vorher, am 11. September um 16 Uhr hatte sie der Künstler Roman Signer im Bahnhof Appenzell feierlich in Brand gesetzt. Mit provokativer Langsamkeit hatte sie sich von dort entlang dem Trassee der Appenzeller Bahn nach St.Gallen gezüngelt, zweieinhalb Minuten brauchte sie für einen Meter.

Es war eine Initial-Zündung, auch inhaltlich: «Auf ihrem Weg, der zwei Kantonsgrenzen querte, löste die Zündschnur teilweise heftige Reaktionen und Irritation aus und wurde so auch zum Gesprächsfaden; gleichgültig liess sie niemanden», kann man auf der Plattform «Zeitzeugnisse» nachlesen.

Die Zündschnur war eine von mehreren Aktionen im Kulturprogramm der beiden Appenzell als Gastkantone der Olma – ein Programm abseits der Sennenklischees, das einschlug. Die Olma und ihr Kulturprogramm: Das gehörte Jahr für Jahr zusammen und hatte (meistens) Profil.

30 Jahre später: Gastkantone sind immer schwerer zu mobilisieren; Ehrengast der diesjährigen Olma ist die IG Volkskultur. Auf an die Olma also! wieder einmal und exakt am 15. Oktober, 30 Jahre nach Signer.

In Halle 9.2. ist die Sonderschau «Dresscode» zur Trachtenkultur zu sehen, von weitem tönen Kuhglocken. Am Eingang will man am «Familia»-Stand wissen, welcher Müesli-Typ ich sei. Weiter, zum Crashkurs Schelleschötte. Ein paar Mutige sind am Üben. Rechts eine gestickte Schweiz, das Werk des VSS, des Vereins Schweizer Spitzenmacherinnen. 1000 Arbeitsstunden seien für die Spitzenschweiz aufgewendet worden, steht in Handschrift geschrieben. Und daneben: Bitte nicht berühren.

Im Hintergrund der Halle ist das Trachtenvolk aus allen Landesteilen zu bewundern. Eine Besucherin erklärt vor einer der Schaufiguren den Unterschied der Frauentrachten vom rechten und vom linken Zürichseeufer, beobachtet von einem Appenzeller Senn mit Lindauerli.

Die Zeit steht still. So still wie die (im übrigen prächtigen) historischen Figurinen. Frauen und Männer in Tracht sind am Weben, Strohschnüren, Sticken, Scherenschneiden. Hackbrettbauer Alder erklärt Besuchern sein Instrument. Das Restaurant serviert Ghackets und Hörnli.

Olma. Schweizer Volkskultur, wie sie die gleichnamige IG versteht, die als Ehrengast für die Sonderschau zuständig ist. Rund 400’000 Aktive vertritt die IG, von der Arbeitsgemeinschaft Schweizer Volkstanzkreise über die Hornusser-, Schwinger-, Drehorgel- und Jodlerverbände, «Radio Tell» und «Goldenem Violinschlüssel» bis zur Trachtenvereinigung und dem Zupfmusik-Verband.

Schweizer Volkskultur? Nicht vertreten sind in der IG die Basler Fasnacht, der Bündner Chalandamarz oder die Genfer Escalade, das Innerrhoder Gebetsheilen, das Jassen und Köhlern, Kegeln, Platzgen, Stadtgärtnern oder Sternsingen, die Schweizer Typografie, die Zürcher Seidenindustrie, die Bieler Zweisprachigkeit, die Zürcher Wohnbaugenossenschaften, Raclette und Fondue, die Kultur der Sinti und Roma, die Kunst des Dachdeckens im Tessin, die Saatguterhaltung, das Autonome Jugendzentrum in Biel, die direkte Demokratie oder der Umgang mit der Lawinengefahr. All diese und Dutzende weiterer helvetischer Besonderheiten finden sich auf der Liste der lebendigen Traditionen der Schweiz.

Acht dieser Traditionen bewerben sich zudem für die Unesco-Welterbeliste, drei davon sind inzwischen aufgenommen: das Winzerfest von Vevey, die Basler Fasnacht und der Umgang mit der Lawinengefahr. Andere, darunter die Alpsaison oder die Schweizer Typografie, sind auf der Warteliste.

Vom Alpsegen bis zur Street Parade stehen diese Traditionen für ein Land der Vielfalt, für eine Schweiz der Bewahrung ebenso wie der Erneuerung, für Stadt und Land. In Halle 9.2 sucht man sie vergeblich, an der Olma gibt es nur die Retroschweiz.

Nebenan in Halle 9.1. schwebt über dem Stand der Eierproduzenten ein riesiges Ei, rundherum riecht es nach Gruyère, Appenzeller, Vacherin, wird Kambly und Kägi und Emmi und Goba und Zwicky und Bschüssig degustiert. Die Äpfel sind suisse garantie, die Neue Schweiz ist nicht einmal kulinarisch existent, kein Thaicurry, kein Falafel, keine Cevapcici weit und breit.

Draussen in der Arena bläst das Militärspiel der Log Br 1, ein Arbeiter schaufelt zwischen den Soldaten Pferdeäpfel zusammen. Vor dem Ausgang drei Alphörner. Auf dem Jahrmarkt verkauft einer hölzerne Wursthobel. Keine Zündschnur in Sicht, weit und breit.

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