«Oh Greul! Oh, Greul! Oh, weh!»

Stimmt alles, was Diana Dengler uns beibringt, gleich am Anfang, ganz nah vor dem Publikum, links und rechts die sechs Mitspieler als Chor, der ihr immer wieder zustimmend ins Wort fällt: Die Trilogie des Aischylos im Original, 175 Seiten Text, das wären umgerechnet rund acht Stunden Theater, eine «bildungsbürgerliche Topleistung», geeignet für Leute «mit einem Hang zu masochistischer Freizeitgestaltung».
Dazu eine hölzerne Dramaturgie, verschrobene Wortstellungen, Rückblenden, Vorschauen, unübersichtliches Götter- und Menschengewimmel, und ein bisschen Spass soll das Ganze auch noch machen? «Oh Greul! Oh, Greul! Oh, weh!» kann da der Chor bloss klagen. Antike zum Davonlaufen.
Davon bleiben wir dann aber verschont. In einem amüsanten Abstract hetzt das Ensemble zum Auftakt durch die Handlung, resümiert die Vorgeschichte (Helena-Raub, Iphigenie-Opferung, Agamemnon-Feldzug, trojanisches Pferd, Schulstoff, lange her), dann geht es richtig los: Rückkehr nach Mykene, Klytaimnestras blutige Rache an ihrem Mann Agamemnon, der Muttermord von Elektra und Orest, «Blut! Blut! Blut! Blut!», Orests Gang zum Orakel, schliesslich der Freispruch durch das von der Göttin berufene Geschworenengericht.
Damit sind wir beim Kern, den Regisseur Martin Pfaff laut Ankündigung freilegen will: das Gericht als Geburtsstunde der Demokratie, die Selbstermächtigung des Menschen, seine Befreiung vom blinden Götterwillen und der Blutrache-Logik, der das Atridengeschlecht seit Urvater Tantalos unterworfen war.
Gründlich dekonstruiert
Das Tempo ist hoch, kein Wunder: In einer nächsten Szene erfahren wir, dass uns Heutigen schlicht die Zeit und der Nerv fehlen würde, acht Stunden Theater abzuhocken. Und dass nicht nur die individuelle, sondern auch die globale Uhr bedrohlich tickt.
Oliver Losehand, gross in Fahrt, schimpft über die «Schauergeschichten» von Göttern und Rache und Schuld, wo in der wirklichen Welt doch gerade «die Sanduhr des nicht umgesetzten Pariser Klimaabkommens abläuft». Oder der «rechte Schwelbrand» die Demokratie bedroht. Die Gesellschaften zerrütten und die Werte bachab gehen.
Drum also: kein Götterzeug, kein antikes Gut-Böse-Schema, sondern Dialektik. Theater als Sowohl-Als auch: «unfertig, ausufernd, schamlos, fordernd, wachmachend und verbindend». Das ist das ästhetische Programm, praktischerweise gleich auf der Bühne ausformuliert. Danach weiss auch der Begriffsstutzigste: Eine Orestie kann man heutzutage dem Publikum bloss noch dekonstruiert zumuten.
Es folgt eine kurze Publikumsumfrage, mit dem Ergebnis: Die grosse Mehrheit, jedenfalls an der Premiere, ist einverstanden mit dem, «was hier gerade so abläuft». Ein einsames Paar wehrt sich für das Original. Und verlässt am Ende demonstrativ vor dem Applaus den Raum.
Weiter also, kurzweilige anderthalb Stunden lang im Wechsel zwischen Spiel- und Metaebene, Text und Songs und Stichworten auf dem Display. Die Schauspieler:innen (Matthias Albold, Diana Dengler, Catriona Guggenbühl, Oliver Losehand, Bruno Riedl, Marcus Schäfer und Anja Tobler) tragen ihre eigenen Namen, bilden wechselnde Chöre, übernehmen mal diesen, mal jenen Part, fallen aus der Rolle, erklären sich permanent uns und sich selber.
Katharsis: wortreich behauptet
Regisseur Martin Pfaff hat das Stück radikal umgeschrieben und tauft es auch um: Die Orestie (revisited) heisst es hier. Matthias Rümmler baut dafür ein Säulenrund, Stefan Pinkernell steuert die Musik bei, die Kostüme zitieren augenzwinkernd Antikes, allen voran Marcus Schäfer als Bote.
In dieser Re-Vision bleibt allerdings auf der Strecke, was die antiken Dramen bei aller Zeitgebundenheit zeitlos macht: die Emotion. Das Mitleiden mit den heillos verstrickten Figuren, das Parteinehmen und Schaudern, der Schrecken und die Hoffnung, dass es aus all dem «Blut! Blut! Blut!» einen Ausweg gibt. Mit einem Wort: die Katharsis.
Katharsis wird in der Lokremise zwar intelligent und wortreich beschworen, als «Genuss-Konsens», als «Seelenwaschmaschine», als «kollektive Entlastung von der Angst vor dem Untergang» – aber sie ereignet sich nicht.
Die Figuren reflektieren ihr Figur-Sein, Matthias Albold wird ob all dem «selbstreferentiellen Befragen der Kategorie Figur» sogar «postdramatisch wahnsinnig» – aber es sind keine Figuren da, an denen sich unsere Anteilnahme festmachen könnte.
Dass auch andere, und nicht weniger zeitgemässe Zugriffe möglich sind, zeigt der Roman Haus der Namen des irischen Autors Colm Toibin, den das Programmheft auch zitiert: Er versetzt sich bis an und über die Schmerzgrenze nah in die Figuren der Tragödie hinein, dass man die Konflikte beinah riecht.
In St.Gallen wird dafür, auch ein Verdienst, das antike Machogehabe feministisch vom Kopf auf die Füsse gestellt. Anja Tobler erzählt die Story kurz vor Schluss ein weiteres Mal, retour bis zum Iphigenie-Mord: als abschreckendes Lehrstück männlicher Herrschsucht auf Kosten der Frauen. Selbst noch die scheinbar unantastbare Kassandra erleide das typische Schicksal der Frauen, deren Perspektive lächerlich gemacht und ausgegrenzt wird.
Weitere Vorstellungen: 6., 7., 12., 13., 14. Mai, Lokremise St.Gallen
Das Schlussbild im Tempelrund bringt die Moral der Geschicht’ auf den Punkt: Wir Menschen können das Zepter übernehmen, den Göttern den Laufpass geben, wir können uns einschalten, Verantwortung übernehmen, «handelnd eingreifen in diese zunehmend verrohende Welt». Stimmt. Und ist geschliffen formuliert wie das ganze Stück. Lieber würde man solches Tun aber auf der Bühne erleben statt erklärt bekommen.
Einer der Diskurse dreht sich darum, ob Theater die Welt retten könne. Die Antwort im Stück heisst: Ja, aber nur kurz, als kurze Störung, kurzes Schmunzeln, kurze Hoffnung. An diesem Abend ist die Wirkung allzu kurz.