«Nur wer keine Existenznöte hat, kann sich frei entfalten»
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Saiten: Die Grünen sind erst seit 2007 im Ständerat und haben 2019 als grosse Gewinner:innen national vier Sitze dazugewonnen. Franziska Ryser, seid ihr überstellig geworden?
Franziska Ryser: Ganz und gar nicht. Wenn wir uns anschauen, welche Themen in der Schweizer Politik aktuell sind – Klimawandel, Energiewende und -versorgung – sind das exakt die Themen, die wir Grünen verkörpern und vorantreiben. Jede Zeit hat ihre Farbe. Und jetzt ist es Zeit für die ökologische Wende und mehr Grüne im Ständerat.
Auch die SVP hat 2019 einen Sitz im Ständerat gewonnen, bisher hat es aber noch nie jemand aus St.Gallen ins Stöckli geschafft. Wie kommt ihr auf die Idee, dass es dieses Mal klappt?
Esther Friedli: Wir sind mit über 30 Prozent die wählerstärkste Partei in diesem Kanton, und das seit vielen Jahren. Darum ist es unser Auftrag, für einen Sitz im Ständerat zu kandidieren. Wir sind überzeugt, dass es im Ständerat eine weitere bürgerliche Stimme braucht.
2003, 2007, 2011, 2015 und 2019: Die SVP ist jedes Mal unterlegen. Eine offene Wunde?
EF: Man muss immer nach vorne schauen. Wir machen Politik für die Bürgerinnen und Bürger. Weil wir Ziele, Ideen und Werte haben, weil wir die Gesellschaft mitprägen wollen. Im Nationalrat stellen wir mit vier Sitzen die stärkste St.Galler Delegation, jetzt soll endlich der SVP-Sitz im Ständerat folgen, das ist unser Ziel.
Sie sprechen von Zielen und Visionen. Was ist Ihr politisches Programm?
EF: Ich stehe für eine wertebasierte, bürgerliche Politik, welche die Familien, die Bürgerinnen und Bürger ins Zentrum setzt und ihnen Freiheiten gibt, damit sie sich entfalten können. Der Staat darf sich nicht immer weiter ausbreiten und noch mehr Vorschriften machen. Ich stehe auch für eine Politik der Sicherheit. Dazu gehört nicht nur eine starke Armee, sondern auch die Versorgungssicherheit mit Nahrungsmitteln und genügend einheimischer Energie. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Aussenpolitik. Die Schweiz darf nicht der EU beitreten, sondern muss unabhängig bleiben.
Das grosse Podium der Erfreulichen Universität zu den Ständeratswahlen:
15. Februar, 20:15 Uhr, Palace St.Gallen
Wofür stehen Sie, Frau Vincenz-Stauffacher?
Susanne Vincenz-Stauffacher: Ich setze mich ein für eine Gesellschaft, in der die Eigenverantwortung im Zentrum steht. Dank meiner beruflichen und ehrenamtlichen Erfahrung ist mir aber auch bewusst, dass ich sehr privilegiert bin und dass es auch Menschen gibt, die nicht auf der Sonnenseite stehen. Für mich heisst das «Eigenverantwortung plus»: Wir müssen alle für uns selber schauen, unsere Stärken ausleben und Leistung erbringen, aber gleichzeitig auch Verantwortung für Schwächere übernehmen, die es selber nicht können. Dieses gesellschaftliche Auffangnetz ist mir sehr wichtig.
Ein Plädoyer für einen starken Sozialstaat?
SV: Nein. Der Sozialstaat ist sicher wichtig, aber wir müssen diesen auch finanzieren können. Darum setze ich mich auch für eine starke Volkswirtschaft ein. Die Politik muss gute Rahmenbedingungen für Unternehmen und insbesondere KMU bereitstellen, damit Arbeitsplätze erhalten bleiben und neue geschaffen werden können. Diese Wertschöpfung braucht es.
Manche behaupten, im Vergleich zur übrigen St.Galler FDP seien Sie eher am linken Parteirand zu verorten.
SV: Das höre ich immer wieder. Die Linken wiederum sagen, ich sei eine Rechte. Es ist amüsant zu sehen, welche politischen Ideen von allen Seiten in mich hineinprojiziert werden. Ich bin einfach ich selbst. Bei manchen Themen ticke ich vielleicht tatsächlich etwas sozialer, in Finanz- oder Steuerfragen bin ich dafür eher konservativ unterwegs. Und wer es ganz genau wissen will, kann mein Abstimmungsverhalten googeln.
Frau Gysi, wofür setzen Sie sich mit Ihrer Politik ein?
Barbara Gysi: Mir geht es um die Bedürfnisse der Menschen. Nur wer keine Existenznöte hat, kann sich frei entfalten. Darum stehe ich für Chancengerechtigkeit ein, denn wie richtig bemerkt wurde, leben nicht alle auf der Sonnenseite. Ich engagiere mich für gute Löhne und Renten, bessere Arbeitsbedingungen und einen sozialen Ausgleich. Meiner Meinung nach muss hier aber der Staat klare Rahmenbedingungen setzen, denn man kann nicht alles privat regeln. Nur so schaffen wir den Ausgleich und die Umverteilung innerhalb der Gesellschaft – auch international. Ökologische Fragen sind mir ebenfalls wichtig, auch wenn sie nicht primär zu meinen politischen Schwerpunkten gehören. Ich bin vor allem Gesundheits- und Sozialpolitikerin, doch auch als solche weiss ich: Eine gute Gesundheit gibt es nicht ohne intakte Natur.
Klima, Gleichstellung, Arbeitsplätze, Mobilität, digitaler Wandel: Frau Ryser, gibt es eigentlich etwas, wofür Sie nicht stehen? Oder anders gefragt: Was sind Ihre Schwerpunkte?
Franziska Ryser: Die Welt wird sich in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren massiv verändern: Es wird nachhaltig beheizte Gebäude und auf jedem zweiten Dach Solaranlagen geben, wir werden weniger Verkehr und vorwiegend Elektroautos haben, weniger und mit synthetischen Treibstoffen fliegen, weniger Abfall produzieren und mehr in Kreisläufen denken. Mit meiner Politik setze ich mich dafür ein, dass wir diesen Wandel rechtzeitig und sozial gerecht schaffen. Meine Schwerpunkte drehen sich also um das Klima; sprich dass wir nicht mehr Ressourcen brauchen, als uns zur Verfügung stehen, dass wir eine sichere und grüne inländische Energieversorgung aufbauen und dass wir eine Wirtschaft haben, die in Kreisläufen und innerhalb der planetaren Grenzen funktioniert.
Sie alle sind breit und gut gebildet. Wie repräsentieren Sie die Arbeiter:innen und Nicht-Akademiker:innen in diesem Land?
EF: Ich fühle mich nicht als Akademikerin. Ich habe zwar Politikwissenschaften studiert, führe jetzt aber ein Restaurant und bin mit Leib und Seele Gastronomin. Dadurch bin ich sehr nahe an den Menschen, die jeden Tag aufstehen und arbeiten gehen. Das ist mir sehr wichtig. Als Gastgeberin spreche ich viel mit den Leuten und kenne ihre Probleme.
SV: Ich bin Akademikerin und stolz auf meine Ausbildung. Mit meinem Wissen kann ich die Menschen unterstützen. Als Anwältin unter anderem mit den Schwerpunkten Familienrecht und KMU-Beratung sehe ich jeden Tag, was die Menschen bewegt. Auch als Ombudsfrau und Präsidentin der Stiftung Opferhilfe sehe ich zum Teil die dunkelsten Seiten der Gesellschaft. Ich würde darum behaupten, dass ich trotz akademischer Ausbildung sehr nahe an den Leuten bin. Aber ehrlich gesagt habe ich etwas Mühe mit dieser Frage…
…aber sie ist relevant. Es ist auch eine Klassenfrage.
SV: Ja, das stimmt. Aber ich sorge mich manchmal, dass die Diskriminierung auf die andere Seite kippt. Ich verstehe durchaus, dass man selber für sich einstehen will, aber ich finde es falsch, anderen abzusprechen, für Interessen und Dinge einzustehen, die sie nicht am eigenen Leib erlebt haben. Hier wünsche ich mir mehr Toleranz und eine differenziertere Diskussion.
Barbara Gysi, als Gewerkschaftspräsidentin müsste es ja in der Natur der Sache liegen, dass man am Puls der Arbeiter:innen ist.
BG: Natürlich. Im Rahmen der Pflegeinitiative beispielsweise war ich unzählige Male im Pflegebereich unterwegs und habe gelernt, was es heisst, bei der Spitex oder im Spital zu arbeiten. Ich kenne aber verschiedenste Lebenswelten. Auch aus eigener Erfahrung: Als Studentin hatte ich Nebenjobs in der Fabrik und im Verkauf, später arbeitete ich als Sozialarbeiterin. Nicht zuletzt diese Erfahrungen haben mich dazu gebracht, mich gewerkschaftlich zu engagieren – für meine eigenen Arbeitsbedingungen, aber auch für jene der anderen. Durch die verschiedenen Kontakte, die ich heute als Gewerkschafterin pflege, bin ich den Menschen und ihren Problemen nahe. Letztlich geht es auch darum, die Menschen zu befähigen, sich weiterzuentwickeln. Doch der beste Wille nützt nichts, wenn die Rahmenbedingungen nicht stimmen, etwa bei Menschen ohne Stimmrecht oder mit Beeinträchtigungen.
Sie sind frischgebackene ETH-Doktorin. Wie kommen Sie aus der eigenen Bubble heraus, Franziska Ryser?
FR: In meinem Bereich betreiben wir relativ angewandte Forschung. Im Rahmen meiner Doktorarbeit habe ich beispielsweise eine klinische Studie durchgeführt. Dafür habe ich eineinhalb Jahre im Spital gearbeitet, habe viele Wochenenddienste und Nachtschichten auf der Station miterlebt und so mit eigenen Augen die Arbeitsbedingungen des Pflege- und Gesundheitspersonals gesehen. Natürlich habe ich einen akademischen Hintergrund, aber ich sehe es ähnlich wie Susanne: Nur weil ich diesen Rucksack mitbringe, heisst das nicht, dass ich nicht auch andere Lebensrealitäten wahrnehmen, wertschätzen und vertreten kann. Übrigens hilft dabei auch die Politik: Gerade auch dank meiner politischen Ämter , beispielsweise bei der Sprachschule Aida, kenne ich andere Lebensrealitäten, was ich sehr schätze. Auch die Sozialen Medien helfen, mit anderen Bubbles in Kontakt zu kommen.
Die Kultur ist kein Thema? Auch sie zeigt uns andere Lebenswelten.
BG: Doch, natürlich! Die Kultur ist ebenfalls ein sehr wichtiger Teil davon – und zwar in ihrer ganzen Breite.
EF: Ich bin jedes Mal ergriffen, wenn in unserem Restaurant ein Gast ein Lied anstimmt und alle nacheinander einstimmen. Für mich ist Kultur etwas sehr Vielfältiges. Wir haben einen grossen Saal und verstehen uns auch als Kulturort. Da passieren ganz unterschiedliche Dinge und wir bieten auch Leuten eine Bühne, die nicht unsere politische Haltung teilen. Das fehlt mir bei gewissen staatlichen Institutionen. Sie sollten für mehr Durchmischung sorgen. Kultur muss leben, nicht vom Staat gefördert werden. Kultur muss von den Menschen her kommen. Darum ist es primär unsere Aufgabe, für eine möglichst breite Kultur zu sorgen – ohne zu werten, was gute und was schlechte Kultur ist. Man darf nicht diese und jene Kultur gegeneinander ausspielen.
Aber Kultur kostet, Kultur braucht Zeit und Räume. Und Kulturschaffende müssen davon leben können. Wenn der Staat nicht unter die Arme greift, entscheidet der Markt, was sich verkauft und der Kulturbegriff wird immer schmaler. Irgendwann ist alles Mainstream.
EF: Das sehe ich anders. Die staatliche Kulturförderung muss zurückgefahren werden. Wenn man von der Kultur leben will, ist man auch gefordert, dass es nicht nur ein paar Wenigen, sondern einem breiten Publikum gefällt. Sonst sucht man sich Mäzene, Stiftungen oder eine private Förderung. Auch das kann ein Weg sein. Es gibt viele Konzepte. Bei uns im Restaurant zum Beispiel stellen wir oft den Saal zur Verfügung und der Erlös geht voll an die Auftretenden. Auch das ist Kulturförderung.
BG: Das ist zu kurz gedacht, Esther. Es geht vor allem um die Rahmenbedingungen. Sie müssen es den Kulturschaffenden erlauben, davon leben zu können und sich auch abzusichern. In der Pandemie wurde dieses Problem zum ersten Mal so richtig an die Oberfläche gespült: Wie prekär viele Menschen leben, die im Kulturbereich tätig sind. Von der Altersvorsorge ganz zu schweigen. Es kann nicht sein, dass Kulturschaffende von der Hand in den Mund leben müssen. Darum braucht es unbedingt staatliche Förderinstrumente.
FR: Ausserdem ist die Stiftungslandschaft geschrumpft in den letzten Jahren. Heute ist es viel schwieriger geworden, an Gelder zu kommen. Und wenn die Kulturförderung zurückgefahren würde, müssten die Theater und Konzertlokale die Ticketpreise massiv erhöhen, um sich weiter zu finanzieren. Das würde zu einer sehr exklusiven Kultur führen. Wir als Gesellschaft haben uns aber dafür entschieden, dass Kultur niederschwellig und für alle zugänglich sein soll. Das bedingt eine Finanzierung. Es ist quasi eine Art Service Public. Mich persönlich bringen Kulturveranstaltungen zwar nicht unbedingt in andere Kreise, da meine Brüder beide in der Kultur tätig sind. Aber Kultur gibt mir die Möglichkeit, Dinge zu reflektieren, andere Blickwinkel einzunehmen.
SV: Ich komme dank der Kultur durchaus mit neuen Bubbles in Berührung. Für mich ist sie etwas sehr Verbindendes. Eine Freundin von mir ist freischaffende Künstlerin. Durch sie sehe ich in völlig andere Welten. Das ist enorm bereichernd. Was ich hingegen ebenfalls schwierig finde, ist dieses Gegeneinander-Ausspielen. Es gibt nicht die eine förderungswürdige Kultur. Für mich war zum Beispiel klar, dass wir das Theater St.Gallen sanieren müssen. Trotzdem verstehe ich es, wenn jemand im Sarganserland nicht dafür zahlen will. Oder das Klanghaus Toggenburg: Es war ein langer politischer Weg, es brauchte Nachjustierungen, aber am Ende hat man sich gefunden. Diese Toleranz braucht es; dass man nicht nur das unterstützt, was einem persönlich zusagt.
Aber Sie befürworten die staatliche Kulturförderung.
SV: Ich positioniere mich in der Mitte. Eine gewisse staatliche Grundfinanzierung ist sicher okay, aber Kultur sollte wenn möglich selbsttragend bzw. privat finanziert sein.
EF: Ich habe einfach den Eindruck, dass nur eine gewisse Art von Kultur gefördert wird. Da muss man sich nicht wundern, wenn sich die Leute nicht mehr abgeholt fühlen. Zum Beispiel das Theater St.Gallen: Die normalen Büezer aus dem Toggenburg gehen nicht dorthin. Es ist so faktisch eine Kultursubvention für Reichere. Auch diese Sanierung ist ein Fass ohne Boden, das haben wir schon damals bei der Abstimmung gesagt. Und das teure Provisorium will ja offenbar auch niemand übernehmen.
BG: Auch die Olma muss mit Millionen unterstützt werden, das befürworte ich ebenfalls.
FR: Es gibt nunmal Kultur, die kostenintensiver ist als andere. Was nicht heisst, dass eine Kultur, die weniger kostet, auch weniger wert ist.
EF: Aber genau dieser Eindruck herrscht bei vielen.
Zurück zum Ständerat. Welches sind Ihrer Meinung nach auf nationaler Ebene die drei wichtigsten Themen in der kommenden Legislatur?
SV: Die Sicherheit in all ihren Facetten. Im engeren Sinn als Verteidigungsfähigkeit, darum braucht es eine starke Armee. Und im weiteren Sinn die Energieversorgungssicherheit und der Kampf gegen den Klimawandel, aber auch die Versorgungssicherheit hinsichtlich Lebensmitteln. Und als Drittes die Sicherheit im Alter, die Altersvorsorge.
BG: Der Umbau der Energieversorgung auf erneuerbare Energien ist sicher eines der zentralsten Themen. Angesichts der Klimakrise muss das jetzt sehr rasch geschehen. Eine weitere grosse Herausforderung ist die Sicherstellung unserer Gesundheitsversorgung. Sie muss bezahlbar und für die Fachleute attraktiv bleiben. Das ist auch eine soziale Frage. Und die dritte grosse Herausforderung ist der Fachkräftemangel. Dafür braucht es gute Arbeitsbedingungen und – ganz zentral – anständige Löhne für alle.
EF: Erstens die Zuwanderung. In der Schweiz leben bald neun Millionen Menschen. Wir haben jegliche Steuerung über die Zuwanderung verloren. Da müssen wir Lösungen finden, vor allem hinsichtlich der illegalen Migration. Zweitens die Sicherstellung von genügend einheimischer und bezahlbarer Energie. Das muss technologieoffen angegangen werden. Wir dürfen nicht zunehmend vom Ausland abhängig sein. Mein drittes grosses Thema ist die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger, aber auch der Unternehmen. Die Eigenverantwortung muss gestärkt werden, sie ist die Basis unserer Gesellschaft. Der Staat darf nicht überall und immer weiter eingreifen.
FR: Zuerst das Klima. Dazu gehört die Energiewende, aber auch die CO2-Reduktion auf netto null. Ein zweites wichtiges Thema ist die Biodiversität. Das wird noch unterschätzt. Der Verlust der Biodiversität nimmt uns mittel- und langfristig die Lebensgrundlage. Manche sagen, diese Krise sei noch schlimmer als die Klimakrise, denn beide schaukeln sich gegenseitig hoch. Und ein drittes wichtiges Thema ist das Update unserer Demokratie. Unser System ist zwar bis jetzt noch relativ stabil, aber ein Viertel der Menschen in diesem Land hat kein Stimm- und Wahlrecht. Sie sind nicht integriert im politischen Prozess und werden marginalisiert. Da braucht es neue Formen, sei es über eine vereinfachte Einbürgerung, ein Geburtsrecht oder ein Ausländer:innenstimmrecht.
Frau Ryser, wo würden Sie in Sachen Klima ansetzen? Welche Massnahmen wären effizient und rasch umsetzbar?
FR: Bei der Energiewende und dem Verkehr. Wir müssen den Ausbau der erneuerbaren Energien voranbringen und gleichzeitig Energieeffizienz fördern und weniger Strom verschwenden. Solarzellen auf Neubauten müssen Standard sein, aber auch eine Solarpflicht für Bestandsbauten ist nötig. Auch in Sachen Windenergie haben wir noch ein grosses ungenutztes Potenzial. Hier bräuchte es eine nationale Planung mit einem Abbau der administrativen Hürden und schnelleren Bewilligungsverfahren. Dann der Verkehr: der einzige Sektor, der die Emmissionsreduktionsziele nicht erreicht. Mit einem Verbot von fossilbetriebenen Neuwagen könnte man schon einiges bewirken. Für eine Umstellung auf Elektroautos bräuchte es allerdings auch die entsprechende Infrastruktur. Aber wir müssen ohnehin den Verkehr grundsätzlich reduzieren, beispielsweise durch mehr Homeoffice. Und natürlich durch einen Umstieg auf den öV und das Velo.
Solarzellenpflicht, Fossilverbot – was sagen die Verfechterinnen der Eigenverantwortung dazu? Teilen Sie diese Ansätze?
EF: Nein. Die Energiestrategie 2050 basiert auf falschen Annahmen und ist eine Importstrategie. Sie ist gescheitert. Wir sind immer mehr vom Ausland abhängig und gerade in den letzten Monaten hat sich gezeigt, wie fatal das ist. Wir müssen darum die einheimische Energie ausbauen. Neue Erneuerbare sind sicher gut und wichtig, aber das reicht bei Weitem nicht.
Was heisst das konkret? Weiterhin Atomkraftwerke und fossile Energien?
EF: Ja, wir müssen das Kernkraftverbot überdenken. Es gibt heutzutage diesbezüglich neue Technologien, die man prüfen muss. Es ist unehrlich zu sagen, dass man keine Kernkraftwerke will, gleichzeitig aber Atomstrom bei den Nachbarn einkauft. Auch der Strom, den wir von Deutschland einkaufen, ist zum Grossteil Kohlestrom. Ausserdem müssen wir den Ausbau der einheimischen Wasserkraft intensivieren. Wenn Linksgrün den ganzen Verkehr dekarbonisieren will, brauchen wir ja noch viel mehr Strom. Mit Wind, Wasser und Sonne allein ist das gar nicht zu machen. Ich bin zuversichtlich, dass Bundesrat Albert Rösti hier technologieoffen sicherstellt, dass wir auch in Zukunft genug Energie haben.
BG: Es ist unehrlich, wenn ihr sagt, dass wir die Atomthematik nochmals neu aufrollen sollen. Wir können nicht die Gasabhängigkeit von Russland durch eine Uranabhängigkeit ersetzen. Das ist nicht zukunftsgerichtet. Wir wissen ja nicht einmal, wohin mit den jetzigen Atomabfällen. Es macht einfach keinen Sinn, in einem Bereich zu forschen, wo man erst in dreissig oder vierzig Jahren Lösungen hat. Wenn überhaupt. Das ist Augenwischerei. Wir brauchen jetzt Lösungen, Franziska hat es skizziert. Und der nächste grosse Schritt dazu folgt am 18. Juni, wenn wir über das Klimaschutzgesetz abstimmen – welches ihr von der SVP mit einem Referendum bekämpft.
Frau Vincenz-Stauffacher, wie positionieren Sie sich als Umweltfreisinnige in der Energiedebatte?
SV: Die Energiestrategie 2050 ist nicht gescheitert, aber sie muss justiert werden. Wir sind bei den Klimazielen im Rückstand. Der Ausbau der erneuerbaren Energien muss massiv beschleunigt werden, auch die Verfahren müssen schneller und schlanker werden. Aber Esther hat Recht, die Energiestrategie ist auch eine Dekarbonisierungsstrategie und eine Importstrategie. Mir fehlt schmerzlich das Stromabkommen mit der EU. Darum ja, wir müssen die inländische Produktion massiv erhöhen. Aber immer im Wissen darum, dass wir nie autark sein werden. Das ist eine Illusion.
Also auch pro Kernenergie?
SV: Das ist der Elefant im Raum. Dass es keine neuen Atomkraftwerke gibt – bei der jetzigen Technologie –, finde ich richtig. Aber ich bin nicht so pessimistisch wie Barbara, wenn es um die Weiterentwicklung dieser Technologie geht. Kernfusion ist das Stichwort. Dafür bin ich offen.
Auch wenn es darum geht, Gelder in die Forschung zu stecken?
SV: Ja, durchaus. Diese Tür dürfen wir nicht zuschlagen. Und um den Rückstand bei den erneuerbaren Energien aufzuholen, sollten die bestehenden Atomkraftwerke so lange wie möglich – sprich: sicher – in Betrieb bleiben. In Kombination mit den anderen Massnahmen wäre die Energiestrategie 2050 so noch zu retten. Ich glaube stark an den technologischen Fortschritt, auch weil wir in der Schweiz einige der besten Bildungs- und Forschungsinstitutionen haben.
Sprechen wir über den Fachkräftemangel. Was wären Ihre Rezepte, um diesen zeitnah zu beheben?
BG: Das geht nur über eine gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie, darum müssen wir unter anderem die familienergänzende Kinderbetreuung massiv ausbauen – und zwar bezahlbar für alle. Wir von der SP haben dafür eine Kita-Initiative lanciert. Das allein reicht aber nicht, es braucht sicher auch eine gewisse Zuwanderung. Und natürlich gute Arbeitsbedingungen für alle Arbeitnehmenden. Ohne sie kann die Ausbildung noch so gut sein, die Leute bleiben nicht im Beruf. Die Pflege ist ein trauriges Beispiel dafür.
FR: Das grösste inländische Fachkräftepotenzial sind die Frauen. Nebst Kinderkrippen kann auch paritätische Elternzeit helfen, die Pensen von Anfang an besser aufzuteilen. Es braucht mehr Teilzeitmöglichkeiten, nicht nur für Mütter. Beim Thema Wiedereinstieg würde eine nationale Strategie helfen, beispielsweise mittels Coachings, Unterstützung bei der Stellensuche oder Umschulungen. Auch im Steuerbereich gibt es Möglichkeiten, Individualbesteuerung kann ein Anreiz sein.
EF: Ich sage, wir müssen die Berufsbildung stärken, statt die Maturitätsquote ständig zu heben. Die Berufsbildung ist eine unserer grossen Stärken. Ich stelle leider immer wieder fest, dass Lehrpersonen und Eltern ihren Kindern von einer Berufslehre abraten, beispielsweise in der Gastronomie.
Aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen?
EF: Nein, sondern weil Dienstleistungsberufe ein schlechtes Renommee haben in unserer Gesellschaft. In der Gastronomie macht man sehr viel für die Arbeitsbedingungen, aber wir arbeiten nunmal dann, wenn andere frei haben. Das macht es nicht einfach. Was mir ausserdem Sorgen macht, ist das Wachstum der öffentlichen Hand. Der Staatsapparat schafft immer mehr Stellen in der Verwaltung. Leute aus den KMU wechseln zum Staat, weil sie dort besser verdienen. Dabei wäre es wichtig, dass diese Arbeitskräfte der Wirtschaft erhalten bleiben, denn KMU müssen ihr Geld selber erwirtschaften.
Gute Löhne sind essenziell. Susanne Vincenz-Stauffacher, auf Ihrer Webseite nennen Sie explizit die sogenannten Working Poor, die man besser unterstützen müsste. Warum sträuben Sie sich gegen einen Mindestlohn?
SV: Ja, es ist unwürdig, wenn jemand 100 Prozent arbeitet, aber nicht davon leben kann …
BG: …und genau darum braucht es Mindestlöhne. Der grosse Personalmangel in der Gastronomie hat ja nicht nur mit den Arbeitszeiten zu tun, sondern vor allem mit den wahnsinnig schlechten Löhnen.
EF: Das stimmt nicht. Wir haben in der Gastronomie einen Gesamtarbeitsvertrag und die Löhne sind nicht mehr so tief, wie du behauptest. Sie sind sogar höher als in übrigen Dienstleistungsbranchen. Aber für noch höhere Löhne müssten die Gäste auch bereit sein, fünf oder sechs Franken für ihren Kaffee zu bezahlen. Das ist aber eine Illusion, die Margen sind so schon klein.
SV: Zuerst noch zum Fachkräftemangel: Unser duales Bildungssystem mit seiner Durchlässigkeit ist wirklich ein Erfolgsmodell, da bin ich mit Esther einig. Auch ich stelle fest, dass viele Eltern das Gefühl haben, ihre Kinder müssen den akademischen Weg einschlagen, «ghaue oder gstoche». Damit tut man ihnen keinen Gefallen. Ich habe auch noch kein Rezept gefunden, wie wir die Berufslehre wieder aufwerten und attraktiver machen können. Das müsste in geeigneten Gremien diskutiert werden. Bei den inländischen Fachkräften setze ich ebenfalls stark auf die Frauen. Dass so viel Potenzial einfach brachliegt, weil die Rahmenbedingungen nicht stimmen, ist volkswirtschaftlicher Unsinn. Es braucht darum eine Individualbesteuerung, Krippenplätze, an denen sich auch die Wirtschaft beteiligt, und liberalisierte Arbeitsmarktbedingungen.
Was ist mit Letzterem gemeint?
SV: Es braucht weniger Vorschriften, ein liberalisiertes Arbeitsrecht. Zum Beispiel flexibilisierte Regeln für Sonntagsarbeit.
Und warum keine Mindestlöhne?
SV: Es gibt Gesamtarbeitsverträge, die zwischen den Sozialpartnern ausgehandelt werden. Das ist der Königsweg. Aber ich will nicht, dass der Staat den Arbeitgebern Vorgaben über die Löhne macht.
BG: Gesamtarbeitsverträge gibt es aber nicht in allen Branchen. Und sie bedingen ein anständiges Vis-à-vis zum Verhandeln. Zum Teil sind die Branchen auch gar nicht so gut organisiert, dass sie einen GAV fordern könnten. Bei der Diskussion zur Pflegeinitiative hast du, Susanne, die GAV-Pflicht aber leider nicht unterstützt.
SV: Dann sollen sie sich organisieren. Und wenn der Fachkräftemangel noch akuter wird, werden vermutlich viele Arbeitgeber automatisch in die Gänge kommen. Was die Zuwanderung angeht, bin ich aber einig mit dir, Barbara. Davon profitieren wir. Auch weil es eine arbeitsplatzgesteuerte Zuwanderung ist. Bei Nicht-EU-Staaten gibt es sogar noch eine Kontingentierung. Ohne Zuwanderung können wir das Fachkräfteproblem nicht stemmen, da müssen wir ehrlich sein.
Zuwanderung hier bedeutet auch Abwanderung dort.
FR: Ja, das sehen wir momentan exemplarisch im Gesundheitsbereich in den Grenzregionen. Deutschland und Frankreich bilden ihre eigenen Leute aus, die kommen dann in die Schweiz zum Arbeiten – und fehlen jetzt dort. Und nochmal zur Ausbildung: Ihr sagt, wir müssen die Berufsbildung stärken, weil sonst alle akademisiert werden. Dabei herrscht dort auch kein Überschwang. Wir haben schlichtweg überall zu wenig Leute. Wir müssen sie nicht nur gut ausbilden, wir müssen sie auch im Beruf halten – über alle Branchen und Bildungsstufen hinweg.
Zum Schluss noch in die Ostschweiz: Wofür werden Sie sich aus kantonaler Sicht im Ständerat einsetzen?
FR: Erstens für unsere Beziehungen zur EU. Das ist zwar ein nationales Thema, aber als exportorientierte Grenzregion sind wir auf einen guten Zugang zu den europäischen Märkten angewiesen. Für einzelne Branchen ist es nur schon durch die Ablehnung des Rahmenabkommens wieder viel schwieriger geworden. Diese Hürden müssen abgebaut werden. Zweitens der Verkehr: Wir sind das Tor zum Osten, sind aber verkehrstechnisch zum Teil immer noch extrem schlecht angebunden, sowohl im Regional- als auch im Fernverkehr. Ich werde mich dafür einsetzen, die nächsten und dringend nötigen Ausbauschritte zu realisieren.
SV: Ich bin überzeugt, dass wir in der Ostschweiz alles mindestens so gut machen wie in anderen Landesregionen – wenn nicht noch besser. Als Ständerätin will ich die Ostschweiz als idealen Wohn-, Arbeits- und Lebensraum positionieren. Das heisst konkret: die Ost-West-Achse ausbauen, die regionale Wirtschaft fördern und die Beziehungen zum angrenzenden Ausland stärken.
EF: Die Verkehrsanbindung ist mir ebenfalls wichtig, aber nicht nur auf der Schiene. Es gibt auch Strasseninfrastrukturprojekte, die für die Ostschweiz sehr wichtig sind, damit sie nicht abgehängt wird, beispielsweise die dritte Rosenbergröhre und der Autobahnanschluss beim Güterbahnhof. Ein zweites Anliegen sind die Energieprojekte. Viele Grossprojekte zur einheimischen Energieversorgung sind im Berner Oberland oder im Wallis angesiedelt. Diesbezüglich gäbe es auch in der Ostschweiz Potenzial, zum Beispiel am Walensee.
BG: In den letzten elf Jahren wurde viel erreicht mit der breit abgestützten Standesstimme. Dank dem Ostschweizer Duo ist die Ostschweiz nicht länger ein weisser Fleck auf der Landkarte. Diese Arbeit will ich weiterführen. Mit dem Ausbau der öV-Anbindungen im Metropolitanraum St.Gallen und dem Einsatz für mehr Fördermittel des Bundes, etwa in den Bereichen Energieversorgung, Bildung und Wirtschaftsförderung. So können wir die ganze Region stärken – was eine zentrale Aufgabe der Ständerät:innen ist. Und am besten gelingt das, wenn wir parteiübergreifend zusammenspannen.
Dieser Beitrag erschien im Februarheft von Saiten.
Franziska Ryser, 1991, hat an der ETH Maschinenbau studiert und 2022 ihre Doktorarbeit über ein bewegungsbasiertes Sensorsystem zur quantitativen und qualitativen Messung von Schlaf abgeschlossen. Angefangen hat sie als Junge Grüne, 2017 war sie St.Galler Stadtparlamentspräsidentin, seit 2019 ist sie Nationalrätin. Unter anderem ist sie VRP der Ryser Optik AG, Co-Präsidentin von umverkehR, im Vorstand der Schule für fremdsprachige Frauen AIDA und Präsidentin des freien Theaterkollektivs E0B0FF.
Esther Friedli, 1977, ist Politologin (lic.rer.soc.) und hat einen Nachdiplomkurs in Corporate Communications absolviert. Seit 2015 ist sie selbständige Beraterin für politische Kommunikation und betreibt ausserdem zusammen mit Toni Brunner als Gastronomin das «Haus zur Freiheit» in Ebnat-Kappel. Seit 2019 sitzt sie im Nationalrat. Unter anderem ist sie Verwaltungsrätin der Bergbahnen Wildhaus AG, im Vorstand von GastroSuisse und betreut die Kommunikation des Regionalen Führungsstabs Toggenburg.
Susanne Vincenz-Stauffacher, 1967, ist seit 1993 selbstständige Rechtsanwältin mit eigener Kanzlei. 2018 sass sie im Kantonsrat, seit 2019 ist sie Nationalrätin. Seit 2013 amtet sie zudem als Ombudsfrau Alter und Behinderung im Kanton St.Gallen (seit 2018 auch für die Kantone Inner- und Ausserrhoden). Unter anderem ist sie Präsidentin der Stiftung Opferhilfe SG-AR-AI, im Vorstand von alliance f, Mitglied der WISG (Wirtschaftsregion St. Gallen) und im Beirat der Berufsstudien- und Laufbahnberatung St.Gallen.
Barbara Gysi, 1964, hat nach der Ausbildung zur Fachlehrerin Biologie/Geografie an der Uni Zürich berufsbegleitend das Diplom als Sozialpädagogin und später den Master in Public Management gemacht. Von 1997 bis 2004 war sie Politische Sekretärin der Kantonalen SP-Sektion, acht Jahre sass sie im Kantonsrat, seit 2011 ist sie Nationalrätin. 2012 übernahm sie das Präsidium des St.Gallischen Gewerkschaftsbunds, seit 2016 auch jenes des Personalverbands des Bundes PVB. Unter anderem ist sie Co-Präsidentin der Städteallianz öffentlicher Verkehr Ost- und Zentralschweiz und im Vorstand des Spitex-Verbands SG/AR/AI sowie von Pro Familia Ostschweiz.