Ich habe vier Anläufe gebraucht für diesen Text, weil ich niemandem die Stimmung verderben wollte. Dann las ich ein Dutzend Medienberichte und habe nun doch etwas zu sagen.
Also, es ist Februar. Drei Jahre sind seit Kriegsbeginn in der Ukraine vergangen. Ich versetze mich in die Wochen davor und erinnere mich, woher die ersten Nachrichten kamen, dass Russland vermutlich angreifen würde. Als Erster sprach mein Grossvater davon. Bald wird er 90. Einer der gescheitesten Menschen, die ich je getroffen habe. Mit ihm konnte man immer über Geopolitik sprechen. Als junger Mann war er Kommandant einer Scharfschützenkompanie an der chinesischen Grenze, später leitete er eine Abteilung in einem grossen Metallurgiewerk und hat nebenher Hunderte von Büchern gelesen.
In seinem Pass steht, er sei Pole, da er im Rahmen der Aktion Weichsel auf polnisches Gebiet umgesiedelt wurde. Mein Grossvater Iwan – oder Jan, wie es in seinem polnischen Pass steht – bemühte sich lange um einen neuen, diesmal ukrainischen, Ausweis. Er war das einzige von acht Geschwistern, das in jungen Jahren in die Ukraine zurückkehrte. Manche blieben in Polen, andere wanderten aus, nach Kanada zu Verwandten der ersten Emigrationswelle oder gar nach Australien. Mein Grossvater brachte mir bei, all ihre Briefe in verschiedenen Sprachen zu lesen. So begann für mich die internationale Geopolitik, als ich sechs Jahre alt war.
Bevor ich mit sieben Jahren in die Schule kam, konnte ich bereits auf Ukrainisch, Polnisch und ein wenig auf Englisch lesen. Manchmal beantworteten wir die Briefe zusammen und legten Postkarten und Fotos bei.
Etwa 20 Jahre später erlangte ich einen Master-Abschluss im Bereich International Journalism. Damals besuchte ich meinen Grossvater, um mit ihm darüber zu sprechen, «was mit der Welt los war». Das ist meine schönste Erinnerung aus der Zeit.
Dann kam 2022, meine Familie feierte die Winterfeste, und mein Grossvater sagte, dass Putin Truppen an die Grenze verlegte und bald Krieg ausbrechen würde. Meine ganze Familie lachte darüber, ausser meinem Grossvater und mir. Wir schauten uns nur an.
Am nächsten Tag las ich die gesamte internationale Presse durch. Es waren Feiertage – niemand las an den Feiertagen so etwas, alle verbrachten Zeit mit ihren Familien. Doch in der Presse gab es bereits Artikel, die erklärten, wie man sich im Notfall ohne Panik verhalten soll. In der Stadt herrschte eine festliche, ruhige Atmosphäre, aber die Luft roch schon anders – nach Krieg.
Erst Mitte Februar 2022 tauschte ich mich mit meinen Kolleg:innen im «Svit Kavy», einem gemütlichen Café, ähnlich dem St.Galler Kaffeehaus, darüber aus, ob sie auch daran glaubten, dass ein Krieg ausbrechen würde. Journalist:innen, Künstler:innen – sie alle lasen die Nachrichten mit. Doch niemand glaubte daran. Es war das letzte Mal, dass wir dort gemeinsam Kaffee tranken.
Kurz darauf ging alles los. Nun sind drei Jahre vergangen, und ich habe einen Flashback: Es ist wieder Anfang Jahr und in internationalen Medien steht fast das Gleiche wie damals, nur mit dem Unterschied, dass diesmal ein Einmarsch Russlands in die NATO-Staaten drohe. Inzwischen verfolge ich die Nachrichten, ohne dass mich mein Grossvater daran erinnern muss. Und ich bin überzeugt: Die Presse macht über so etwas keine Witze. Egal ob «Bild» oder «New York Times» – es ist dieselbe Rhetorik: Die baltischen Staaten verletzen angeblich die Rechte der Russen (eine künstliche «Schlagzeile» vom Aggressor). In Deutschland lerne man, einen Notfallrucksack zu packen, Polen habe die Militär-Jets in die Luft geschickt, Finnland errichte Befestigungen an der Grenze ...
All das kommt mir bekannt vor. Aber diesmal weiss ich, wie man einen Notfallrucksack packt.
Liliia Matviiv, 1988, stammt aus Lviv in der Ukraine. Die Journalistin, Essayistin und Sozialaktivistin ist im Frühling 2022 in die Schweiz gekommen und lebt derzeit in St.Gallen. Ol’ha Gneupel hat den Text übersetzt.