Nieder mit der Krone! Die Quarantäne als Klassenprivileg.

In naher oder ferner Zukunft werden Lockdown und Pandemie Geschichte sein. Über die Gegenwart sprechen müssen wir aber in der Gegenwart. Ein häretischer Rundgang durch die Krise und einige philosophische Anstösse aus dem April für den (ersten) Mai.
Von  Michael Felix Grieder

«Dem freien Unternehmer drohte nach langen Fehlern, die vom unverschuldeten Missgeschick nach aussen kaum zu unterscheiden waren, der Bankrott. Er musste wieder beginnen. Der Angestellte vergeht sich, wird entlassen – ist in ständiger Gefahr der Zurechtweisung – ja Bestrafung. Welchen Unterschied im Selbstbewusstsein, bis in die kleinsten Einzelheiten des Charakters und der Lebensführung muss das im Gefolge haben!»

Max Horkheimer

 

«Maintenant je suis maudit, j’ai horreur de la patrie. Le meilleur, c’est un sommeil bien ivre, sur la grève.»

Arthur Rimbaud

 

Das Interessante an der Wut über Dinge, die man nicht ändern kann, ist doch, dass man schnell auf Dinge stösst, die sehr wohl geändert werden können. Zeit, mal wieder über die Figur des «Bürgers» zu reden.

Das Virus hat einige Fässchen angestochen. Vermutlich gibt es wenig Menschen auf der Welt, deren Leben nicht in irgendeiner Form vom Virus betroffen wäre. Und irgendwo inmitten dieser Vielfalt der Situationen liegt ausreichend bequem das Privileg. Damit ist nicht diese selbstherrliche Feststellung angezeigt, «wie gut es uns doch geht», die immer ein nationalistisches Unbewusstes transportiert und im besten Fall zu etwas steuerbefreiter Philanthropie motiviert. Privileg sollte auch keine puritanische Luxuskeule sein, die anderen Brot und Wasser aufnötigt, selbst aber nur in einem lauten Verzicht auf Kaviar besteht. Privileg ist ein Weiteres nicht, nämlich partout manifest: Die vielen darunter verstandenen «Vorrechte» gibt es als ausgesprochene Rechte zumeist nicht oder nicht mehr.

Aber: Wenn Privileg auch eine Metapher ist, die manchmal etwas daneben greift, so muss wie bei jeder Metapher danach gefragt werden, was sie sagen will und was sie sagen kann. Dann wird schnell klar, dass der Begriff Privileg kein ominöses Gesetzbuch bezeichnet, sondern kulturelle Formen der Bevorzugung, oder spezifischer noch: Formen der zwischenmenschlichen Machtausübung, die flankiert sind von juridischen «Sicherheiten» (insbesondere dem hochproblematischen «Schutz des Eigentums»), aber im weiteren Sinn auf einer kulturellen Ebene begriffen werden müssen. Das will nichts anderes heissen, als dass wir «Privileg» nicht angemessen verstehen können, wenn wir nicht alle erdenklichen Phänomene berücksichtigen, die die Strukturen offenlegen, durch die wir uns bewegen.

Sollen die Privilegien in der Coronakrise diskutiert werden, muss bei einer gewissen Bedeutungskollision begonnen werden, mixed signals. Die Kommunikation der Regierung unter Notrecht gilt es zu analysieren hinsichtlich der Adressierung und des Ungesagten. Das von Koch und Berset zu Beginn jeder Stellungnahme und jeder Antwort wiederholte Mantra «bleiben Sie zuhause jetzt» hiess für sehr viele Menschen, unter erschwerten (wo nicht gefährlichen) Bedingungen erst recht arbeiten gehen zu müssen. Es hiess also nicht, was die Worte bedeuten. Um die Privilegierten zu überzeugen, dass sie zu Hause bleiben müssen, musste ihnen vorgegaukelt werden, dass dies «alle» betrifft. Damit das Bürgersubjekt gewisse tendenziell sinnlose Verhaltensweisen temporär aussetzt, brauchte es die Illusion, damit etwas zu gewinnen, während andere bestraft werden.

Nun gibt es allerdings nichts Bürgerlicheres unter der Sonne, als «alle» zu sagen und gleichzeitig einen Grossteil der Umgebung nicht zu meinen.

Nehmen wir einige Massnahmen, die den Lockdown begleiteten: das Schliessen der Grenze, die Mobilisierung der Armee, das rigorose Versammlungsverbot, die Schikane binationaler Liebesbeziehungen, die massive Erweiterung polizeilicher Kompetenzen. Wer meint, das sei gerechtfertigt durch die Infektionsgefahr, meint vermutlich auch, es sei sinnvoll, sich bei Kopfschmerzen gegen den Kopf zu schlagen. Sinn würden diese Massnahmen erst im fragwürdigen Dreisatz machen: 1. Der Bürger ist rechts. 2. Rechts sind die obigen Massnahmen. 3. Soll der Bürger glauben, dass es ernst ist, braucht es die obigen Massnahmen. Das ist politisches Ballenberg. Ein naiv-absurdes Gemälde, um das verschobene Selbstbild des Bürgers zu spiegeln, denn wenn die Waffen gegen aussen und gegen unten gerichtet werden, DANN geht der Bürger nachhause (und beginnt da seine Memoiren zu schreiben, weil er jetzt «Teil» von etwas Grossem gewesen ist).

Die Rezepte haben gewirkt, die Städte sind leergefegt. Ein paar Wahnsinnige schrien anfangs noch nach dem totalen Ausgangsverbot, vermutlich um sich selbst zu motivieren, endlich in Quarantäne zu gehen. Polizei ist dann nicht so sehr ein Problem der Polizeibeamt*innen, sondern derer, die sie einsetzen wollen. So passend es ist, sich gegenüber einer Pandemie dem kategorischen Imperativ der Medizin anzuschliessen, so fatal ist es, diesen Imperativ polizeilich verschoben zu erweitern. Das ethische Gebot der Solidarität in der Krise bedeutet vorerst und vor allem, den eigenen Bauchnabel nicht für das Zentrum des Universums zu halten.

Machen wir stattdessen eine tour de privilège anhand von vier Begriffen, die gegenwärtig möglicherweise von Interesse sind und noch nicht zum Erbrechen besprochen wurden.

I. Toxik.

Die Frage, warum die Rekrut*innen aufgrund ihres Verhaltens Gefahr liefen, sich zu infizieren, beantwortete Coronageneral Droz mit «Testosteron». Schenkelklopfer waren auch schon lustiger, aber die Armee hat ohnehin nicht den Ruf, guten Humor zu fördern. Den denkwürdigsten Satz der ganzen Krise sagte Martin Dumermuth vom Bundesamt für Justiz später in derselben Sitzung: ein gewichtiger Grund, auf eine Ausgangssperre zu verzichten, war nicht etwa polizeiliches Zögern, sondern die Angst vor einer Zunahme häuslicher Gewalt. Dabei klang es in den Tagen zuvor, als der Bundesrat die Ausgangsperren in den Nachbarländern als «populistische Lösungen» bezeichnete und uns auf einen Marathon einschwor, als würde der Gesellschaft so etwas wie Mündigkeit zugetraut. Auch dies war richtig gute Kommunikation. Die politische Streicheleinheit war vermutlich die entscheidende Intervention, um in allzu vielen Haushalten den nackten Horror abzuwenden. Dieser Schachzug hat stattdessen die Erfahrung ermöglicht, wie unverschämt heilsam ein kleiner, sinnloser Spaziergang tatsächlich sein kann.

Ein gutes Zeugnis für die Gesellschaft ist das nicht. Ein Zeichen immerhin für die Wichtigkeit gemeinsamer, öffentlicher Räume: Sichtbarkeit reduziert die Intensität solcher intimen Fallen. Aber Achtung: Die Beobachtung, dass Belästigungen im öffentlichen Raum ausbleiben seit dem Ausbruch der Pandemie, dass gewisse Charaktere endlich erträglichen Abstand einhielten, dementiert die absolute Gültigkeit bürgerlicher Öffentlichkeit als Heilmittel – und vervollständigt das Bild. Weder die Sphäre des Privaten noch der Öffentlichkeit garantieren den Schutz der körperlichen und geistigen Unversehrtheit. Sie tun es zwar für manche – ohne Zynismus ein sehr schönes Privileg –, aber eben ganz und gar nicht für alle.

Zynisch wäre es, einige in Gefahr zu bringen, um einige zu retten. Solidarisch ist es, Raum und Räume zu schaffen und zu pflegen, die keine privaten Höllen oder übergriffige (und derzeit infektiöse) Öffentlichkeiten sind. Toxisch ist es, wenn die Polizei nahezu alle nicht-privaten Begegnungen (die nicht dem Konsum dienen) sanktionieren kann, lebensnotwendig ist nicht nur die Migros. Bei aller Begeisterung für Speis und Trank sind da auch noch Psychen, und wir erleben gerade eindrücklich, wie wenig «privat» diese sind. Weder die Einsamkeit der Alten noch der Utilitarismus des Erlaubten im Ausnahmezustand sind in irgendeiner Weise hinzunehmen. Wir brauchen Sorge (womit zuletzt auch die therapeutische Wirkung einer maskierten und spatiierten Demonstration gemeint sei), wir brauchen weder Armee noch Ordnungsbusse noch Vaterland. Die Regierung tat das Naheliegende, und sie tat es nicht etwa schlecht. Das Problem ist vielmehr das gouvernementale Privileg, zu glauben, dass damit irgendetwas in Ordnung wäre.

II. Asketismus.

So alt wie der Kapitalismus ist die protestantische Idee, Verzicht würde uns einem allfälligen Gott oder Paradies näherbringen. Gehorsam, Gebet, Einsamkeit und vor allem: Schnauze halten, weiter ackern. Wir sind nicht zum Vergnügen hier. Da ist ein tieferer Grund hinter dieser höheren Gewalt. Wir sollen leiden aufgrund von Bestimmung.

Solcherlei Ideologien gibt es momentan in verschiedenen Ausformungen. Die ersten sind die offensichtlicheren und sie sind ausserordentlich gefährlich: Der indische Premier Modi und Trump, die, als die globale Krise bereits in Gang war, in Ahmedabad vor hunderttausend Claqueur*innen ihre nationalistische Bromance feiern liessen, haben es mit ihren Massnahmen (neben einigen anderen) geschafft, das Leid, das das Virus ohnehin verursacht, jeweils noch zu vervielfachen. Solche selbsternannten Herrenmenschen gehören für ihr tödliches Handeln in den Knast (andernfalls braucht es diese Knäste nicht). Privilegiert wie kaum jemand sonst auf der Welt, interessieren sie sich während einer Pandemie – für fucking Einschaltquoten. Die wollen nicht selbst verzichten, andere sollen es für sie tun: die politischen Gegner*innen, das Proletariat, das Prekariat – und derzeit besonders diejenigen, die ein Leben lang die Emissionen solcher Politik einatmen mussten. Faschismus der Selektion. Wirkliche Askese ist das nicht, eher schon deren Einsatz zu korrupten Zwecken.

Die Askese kann jedoch auch problematisch sein, wo sie vorerst niemand anderem aufgenötigt wird. Zurück zu sich selbst finden, weltabgewandt sich auf höhere Werte besinnen, immer mehr höher und immer mehr mich, mein, meinetwegen. Da kommt es sehr gelegen, dass ausgerechnet diese Egozentrik mittlerweile als Solidarität gehandelt wird – von Stimmen, die sonst mit Solidarität nicht viel zu tun haben wollen. Was geschlossene Grenzen nicht alles bewirken können! Es wird unheimlich heimelig.

Romantisch ist sie zudem, die Idee. Endlich Quarantäne! Ruhe haben vor dem ganzen Scheiss, Feierabend von früh bis spät. Was hatten wir Stress in dieser falschen Welt, da kommt Corona grad gelegen. Ein Buch lesen, eines schreiben, wir Schreibenden lieben Quarantäne seit jeher. Und interpretieren dann abermals die Welt, die es stattdessen zu verändern gälte. Seien wir auf der Hut.

Nennen wir es das Missverständnis der Stoa. Sich von Störungen befreien. Sich selbst genügen. Die Leidenschaften zügeln. Glückseligkeit finden, indem man sich von den beschissenen Umständen auf gar keinen Fall beeindrucken lässt. Memento mori! Wir leben nicht für immer. Zweitausendjährige Kulturtechniken der Sorge um sich, mitunter entwendet und entfremdet durch das Christentum, die an sich ohne Frage sehr nützlich sind. Aber wenn wir heute die Stoa bemühen, tun wir das durch den Filter der Geschichte, die ihr nachfolgte. Wenn wir heute «Sorge um sich» sagen, tun wir das nicht vor dem Hintergrund eines Primats des Gemeinsamen, sondern im Modus eines privaten Bankkontos, der Pflege eines Instabodys oder von Smoothiewerbung. Wenn wir aber Verzicht fordern, gilt es zu präzisieren: Eine Forderung von Verzicht ist jedenfalls die Forderung nach einem Privileg des Verzichts. Und die Forderung nach einem Privileg ist entweder sophistischer Schwachsinn, autoritäre Ignoranz oder, wenn diese Möglichkeiten sinnvollerweise ausgeschlossen werden: eine unmissverständliche Aufforderung, die Welt zu verändern. Notieren können wir, wenn wir es gerne einfach hätten, dass sie auch den Kaiser Marcus Aurelius erwischte, die verdammte Pest.

III. Sekurität.

Hier gibt es einige Missverständnisse. Die Gegenwart ist von einer umfassenden Unsicherheit geprägt, oder mehr noch von einer Vielzahl verbundener Unsicherheiten, die keinesfalls alle denselben Charakter, dieselbe Intensität haben. Das ist in dieser Art äusserst selten, vermutlich gab es das noch nie. Nur schon in einem beliebigen kleineren Umfeld: die Unsicherheiten einer Mutter, eines Schulkindes, eines Lehrlings, von Arbeitenden in Pflege und auf dem Bau, von allen möglichen, die am Arbeiten gehindert werden und besonders die der Risikogruppen sind keinesfalls dieselben, aber sie sind verbunden im globalen Akuten, der Reaktionskette, die der Infektionskette auf den Fuss folgt. Und auch die Überprivilegierten, die in der Krise gar profitieren, kennen die Unsicherheit: Auch die Banken wissen, dass die Welt von morgen wahrscheinlich nicht mehr dieselbe sein wird.

Wir sind es uns gewohnt, die Unsicherheit als Nichtung von Sicherheit zu denken. Und kreisrund soll folglich ein Mehr an Sicherheit die Unsicherheit aufheben. Batman bekämpft den Joker – und je diffuser, agiler und unheimlicher diese Unsicherheit wahrgenommen wird, desto strahlender erscheint die Gewalt, die sich ihr im Namen der rasternden und ordnenden Sicherheit entgegensetzt. Problematisch an dieser Vorstellung ist, dass wir diese Auseinandersetzung imaginieren als Arena, in der wir uns als Beobachter*innen einfinden. Und dass es sie nicht gibt, die kämpfenden Gottheiten Gut und Böse. Das versprochene metaphysische Spektakel, das uns so angenehm hypnotisiert, fällt wie immer aus.

Tatsächlich verläuft die Dramaturgie anders. Es ist die sorglose Sicherheit (securitas), die die Kur negiert, während die doppelte Negation in der Unsicherheit (insecurity) einen an der dysfunktionalen Gewalt der Sicherheit geschulten Sorgeansatz (cura) offenlegt. Ein winziges clinamen hat alle Sicherheitsdispositive der Welt in Windeseile schwindlig getanzt und damit die hegemonialen Politiken der vergangenen Jahrzehnte ihrer verdienten Lächerlichkeit preisgegeben. Und während in der sinnlos gewordenen Arena noch einige von ihren Balustraden klatschen wie römische Kaiser zu den Todgeweihten, wachsen unter den Pflegefachkräften dieser Welt, die den ganzen Mist verräumen müssen, die Stimmen des kommenden Aufstands: Nach Corona – kommt der Streik.

IV. Prekarität.

Das Problem ist, dass abgesicherten Leuten die Unsicherheit erklärt werden musste. Diese erleben nun das für sie neue Gefühl der Prekarität. Für die Prekären aber ist die neue Situation von einer ziemlich umfassenden «Sicherheit» geprägt: bei einigen das Berufsverbot auf unbestimmte Zeit. Die neue Prekarität der einen ist für die anderen, die sie schon kennen, die Versicherung, nicht einmal mehr prekär leben zu können. Das ist der Genickschlag einer verständnislosen Welt, die einen Namen hat: Man nennt sie «Privileg».

Horkheimers eingangs zitierte Note stammt aus den frühen 1950er-Jahren, einiges ist an ihr noch aktuell. Abgesehen davon, dass sie dieselbe Welt teilen, haben Lohnabhängige und Selbständige kaum je dieselben Sorgen. Ein grosser Teil des uns eigenen Selbstverständnisses in unseren Beziehungen, die zusammengenommen das Soziale bzw. die Gesellschaft bilden, haben wir erlernt durch die in unserer Umgebung vorherrschende Produktionsweise und der Rolle, die wir darin einnehmen.

Bei aller Schwere des Unterschieds, den die Hierarchie macht, die dem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis übergestülpt wird, ist es angezeigt, nicht in schnelle Polemik zu verfallen. Es ist das Verhältnis Kapitalist – Proletariat: Die alltägliche Angst vor Bestrafung entspringt der Abhängigkeit und Hierarchie in kapitalistischen Lohnarbeitsverhältnissen. Das ist aber nicht das einzige, das Horkheimers Passage entnommen werden kann. Legen wir die Betonung auf den Unterschied, den soziologischen Blick par excellence. Dieser Unterschied «bis in die kleinsten Einzelheiten des Charakters und der Lebensführung» muss uns beschäftigen, wenn wir Corona und die damit einhergehenden Privilegien betrachten wollen – und das müssen wir, um die Gegenwart zu verstehen.

Augenfällig ist national, dass Selbstständige und Lohnarbeitende zum Inventar des zu rettenden Systems gehören. Gefährdet sind sie dann, und das gilt global, wenn sie prekär sind. Weder für Mikrounternehmen noch für prekäre Angestellte oder auch der Kombination beider Formen wurden primär Lösungen präsentiert. Das Narrativ «wir wollen keine kaputten Unternehmen retten» bzw. «Banken sind keine Pestalozzis» der bürgerlichen Mehrheit im Bundesrat heisst nichts anderes, als dass alle möglichen prekären Unternehmen – die sehr wohl funktionieren – an Massstäben gemessen werden, die anderen Grössenordnungen entsprechen.

Hierin liegt, was wir eben Unterschied genannt haben. In der Gastronomie, die nur in Köpfen einer bildungsbürgerlichen Elite von der Kultur getrennt wird, sind ausserordentlich viele Probleme aus dieser Warte gar nicht sichtbar. Welche Bedürfnisse als relevant begriffen werden, ist abhängig von Charakter und Lebensführung der Personen, die das zu entscheiden haben. Die Möglichkeit, überhaupt prekär arbeiten zu können, ist für viele (Kulturschaffende insbesondere) aber überlebensnotwendig.

Und da stechen wir das grösste Fässchen an, nochmals: Keine der ausgesprochenen Sicherheiten greift wirklich für das Prekariat, sei es nun selbständig oder angestellt. Hier wurde nicht gefragt, hier wurde nichts bedacht – stattdessen wurden gut bürgerlich diese ganzen Milieus als nicht funktionierend und darum nicht notwendig klassifiziert. Dabei wäre es weder kompliziert noch teuer gewesen: Ein Schnitt bei der Miete, ein Grundeinkommen und die Aussetzung von Versicherungsbeträgen hätte das Problem für alle gelöst.

Wenn es der obere Teil der Gesellschaft schon ablehnt, in prekären Kategorien auch nur zu denken, so wäre es das Mindeste, wenigstens zur Kenntnis zu nehmen, dass diese Arbeit existiert und dass es sie braucht.

In der gegenwärtigen Form gereicht die Kommunikation nur zum haarsträubenden Ressentiment, dass diese prekären Dinge nicht notwendig seien, was weder dem liberalen noch dem sozialen Weltbild entspricht. Es ist, wenn schon, ein chauvinistischer Albtraum. Zur Kenntnis nehmen müssen wir dann leider, dass Teile der Sozialdemokratie noch immer Mühe (ein Unterschied) damit bekunden, den prekären Bodensatz der Gesellschaft zu verstehen. Belangen müssen wir jedenfalls die Liberalen, deren hochtrabende Freiheitsversprechen immer dann nicht gelten, wenn sie gelten könnten (d.i. Ideologie). Beides ist nicht neu. Neu könnte beispielsweise sein, dass wir endlich aufhören mit dem Wahnsinn, bürgerlich-nationalistischen Illusionen everyfuckingtime den vorauseilenden, durch nichts gerechtfertigten Vorrang (Privileg) zuzusprechen.

Nachsatz.

Wir müssen uns an den Staat erinnern als der gegenwärtig einzigen Konzentration von Macht, die gross genug ist, dem Zwang, uns während einer Pandemie durch Lohnarbeit in (Lebens-)Gefahr zu begeben, einen Riegel vorzuschieben. Daran werden wir die Geschichte messen müssen. Die ideologische Panik, da draussen wären Unbelehrbare, die es durch noch mehr Bestrafung zu massregeln gälte, ist ein beschämendes Indiz, wie es um die politische Bildung hierzulande steht. Applaudieren müssten wir vielleicht denjenigen, die einer solchen Situation irgendetwas abgewinnen können. Schön, dass ihr es schön habt. Aber davon handelt die Geschichte nicht.

Sorge brauchen diejenigen, denen es durch diese Situation schlechter geht: zwingend sind das die Risikogruppen, als Effekt der Massnahmen aber genauso die vielen, denen der Lockdown an die Existenz geht. Und Sorge wiederum heisst immer Arbeit. Ein Mehraufwand an Arbeit, der der Gesellschaft in Form eines ungesicherten Vorschusses zugeführt wurde, während diese sich darüber den Mund zerreisst, dass alles zum Besten sei in der besten aller möglichen Welten, gefolgt von der tendenziösen Frage, wer denn nun die Krise bezahlen soll.

Nun, stellen wir die Frage zurück: Wer bezahlt sie, die offensichtlich essenzielle Sorgearbeit? Beansprucht wurde die Leistung bereits, nur die Rechnung ist noch offen. Das ist der erste Skandal. Der zweite folgt auf dem Fusse: Nicht nur wurde diese Rechnung nicht beglichen, die Arbeit wurde quasi entwendet, der Nation zugeführt, der patriarchalen Patria. Daraus entspringt der dritte Skandal: das Privileg der Grenze. Geschlossen wurde sie, damit die Sorge, diese Arbeit nicht entwischen kann, und dass niemand, der sie bräuchte, hinzukommen könnte. Die Hölle von Moria beginnt auf deinem Wahlzettel. In diesem Sinne: Heraus zum ersten Mai! Ihr wisst schon, Raum und Masquerade, vielleicht joggend.