, 24. Mai 2024
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Nichts Halbes, immer Vollgas

Nane Geel gehörte zu den treibenden Kräften der 1980er-Alternativszene. Sie beanspruchte immer ihren eigenen Weg und setzte sich für eine gerechtere Welt ohne Diskriminierungen ein. Im März verstarb Nane 67-jährig. von Wolfgang Steiger

Nane Geel, 1957–2024 (Bilder: Privatarchiv)

An diesem milden Frühlingstag treten nach und nach die gealterten Mitglieder der 80er-Alternativszene St.Gallens auf den Kapellenvorplatz im Friedhof Feldli. Zum Beispiel M., in bunte afrikanische Gewänder gekleidet. Sie und ihre kleine Tochter wohnten damals mit Nane zusammen in der WG an der Hirtenstrasse in Rotmonten. Y., der an seiner notorischen Gauloise Bleu ohne Filter zieht, bemerkt bitter humorig: «Ich habe immer gehofft, Nane eröffnet im Alter als grantige Wirtin ein Beizli.» J. kannte Nane seit Kindheitstagen, sie erzählt vom letzten Treffen mit ihr im Garten an der Hirtenstrasse: «Ihr weisser Hund döste im Schatten, es war ein wunderbarer Sommertag, alles schien wieder möglich.» Die Menschen im Halbrund auf dem Platz bringen ihre Geschichten mit.

Eine höchst ungewöhnliche Trauerfeier

Die Menge strömt in die Kapelle. In ihrer Ansprache hebt Pfarrerin Verena Hubmann das Besondere an diesem Anlass hervor. Nur schon die Todesanzeige, das sei ihr in ihrem Beruf noch nie begegnet: Eine Karikatur von Nane als Engel in Rückenansicht sitzt auf einer Wolke, sie schaut zornig und rebellisch über die Schulter zurück und zeigt dem Betrachter die Hand mit gestrecktem Mittelfinger. Zu Beginn der Feier intoniert ihr Bruder Bobby Geel auf der Kirchenorgel den Spiritual Amazing Grace.

Nach dem Lebenslauf von der Pfarrerin würdigt Nanes Sohn Jan die Verstorbene in Form eines DJ-Sets. Zwischen den Musikstücken erzählt er von ihrem aussergewöhnlichen Verständnis der Mutterrolle und beschreibt seine Kinderjahre in der Szene der autonomen Linken: «Ich wünschte mir auf keinen Fall eine andere Erziehung. Für mich war es eine absolut spannende und lehrreiche Zeit.» Abwechselnd mit Jans Inputs spielt die Musikanlage der Friedhofskapelle die Playlist mit Nanes Lieblingssongs. Am Schluss rauscht herzlicher Applaus durch den Kapellenraum. Er gilt wohl je zur Hälfte dem DJ und Nanes immateriellem Lebenswerk.

Der Lebenslauf mäandert

Nane kam als viertes von sechs Kindern am 18. Oktober 1957 zur Welt. Ihren Taufnamen Anita benutzte ihr Umfeld nicht. Schon früh machte sich ihr eigenwilliges und bestimmendes Wesen bemerkbar. In der ersten Klasse war einmal der Lehrer bei Schulbeginn noch nicht im Klassenzimmer, da schickte die kleine Nane kurzerhand alle Kinder nach Hause – sie bestimmte, dass schulfrei sei.

Mit 15 veränderte sich Nane, las Bücher über den Nazi-Terror. An der Schwelle zum Erwachsenenalter beschäftigten sie soziale Ungerechtigkeit, Gewalt und Krieg. Gleichzeitig trainierte sie im Leichtathletik-Club Brühl. Als Mittelstreckenläuferin kam sie bei den Schweizer Meisterschaften auf den achten Platz. Nanes Lebensmotto, sich nicht unterkriegen lassen, die Power herauslassen, bildete sich immer mehr heraus.

Mit 18 Jahren schloss sie im Talhof die Diplommittelschule Wirtschaft mit eidgenössischem Handelsdiplom ab. Anschliessend arbeitete sie in einem Anwaltsbüro. Eine Lehre als Fotografin brach sie wegen der Schwangerschaft ab. Es folgten Heirat, mit 21 die Geburt von Jan, und – wie auch immer es dazu kam – die Drogensucht. Sie zog ihr den Ärmel rein.

Vom Junkie zur Sozialarbeiterin

Nane leistete Unglaubliches: Sie kämpfte um das Sorgerecht für ihren Sohn, beteiligte sich bei zum Teil hirnrissigen Kollektivprojekten wie der Stadt-Landkommune mit Bauernhof, einem Piratenradiosender, der zweimonatlich erscheinenden «Grabenzeitung», organisierte die WG an der Hirtenstrasse und musste sich Stoff für ihre Sucht besorgen. Zu alldem jobbte sie noch für den Lebensunterhalt im Engel, im Stadtladen und bei der Pro Senectute.

Das schaffte sie nur dank ihrer Strukturiertheit und enormen Willenskraft. In der autonomen Szene bildeten Junkies die Ausnahmen. Nanes Freund:innen und Genoss:innen beschränkten ihr Rauschverhalten aufs Kiffen und Biertrinken. Womöglich verhalfen dieser Umstand und die positive Wirkung ihrer Beziehung zum WG-Genossen H. ihr zum Ausstieg aus der Sucht.

Nun wechselte Nane die Seite. Als Gassenarbeiterin betreute sie für die Suchthilfe Junkies. Zusätzlich absolvierte sie die Ausbildung zur Sozialarbeiterin an der Fachhochschule und war danach bei Maria Magdalena tätig, dem Beratungsangebot für Frauen im Sexgewerbe. Schliesslich nutzte sie ihre sozialpädagogische Berufserfahrung für die Betreuung von Menschen in schwierigen Lebensumständen.

Backflash in die 80er

«Was das Leben mit Nane so einzigartig machte», sagt Jan, heute selber in seinen 40ern und Vater von drei Kindern im jugendlichen Alter, «war, dass man nie wusste, was hinter der nächsten Kurve zum Vorschein kommen würde.» Eine seiner frühesten Erinnerungen betrifft die Reisen ins Tessin, die Nane gemäss richterlichem Beschluss mit ihm unternehmen durfte. «Auf der Fahrt mit einem roten Renault 4 gehörte der Bahnhof Thusis jedesmal als Haltestelle fix dazu. Dort bekam ich eine Raketenglace für 60 Rappen und für Nane gab es ein gut beleuchtetes WC. Dann ging es weiter auf der Autobahn, Nane mit zwei Kissen unter ihrem Hintern und mit Stecknadelpupillen, ich mit der Raketenglace auf der Rückbank, dazu die Stereoanlage auf voller Lautstärke.»

Jan kam als siebenjähriger Knirps zu Nane. Er zählt seine coolen und – wie er ironisch anfügt – «kindgerechten» Spielplätze auf: stundenlang im Bündnerhof pokern, am Abend in der Grabenhalle Eintritte verkaufen, die Seiten der frisch gedruckten «Grabenzeitung» zusammenlegen, im Stadtladen Müeslimischung abpacken, an der Engelsitzung am Dienstagnachmittag zuhören, wie Nane sich wortgewandt Gehör verschafft. Irgendwie habe sie es immer geschafft, ihn aus allen Schwierigkeiten wie Verhaftungen oder Schlägereien herauszuhalten. Hausbesetzungen und die offene Drogenszene wusste sie zu meiden.

Ausgebremst auf der Überholspur

2012 erkrankte Nane an einer Hirnhautentzündung, von der sie sich nie mehr richtig erholte. Infolge von Hirnblutungen und Epilepsie verlor ihr Gehirn nach und nach seine Hochleistungsfähigkeiten. Nane sei mehr und mehr kurz angebunden geworden, beschreibt Jan ihre letzten Jahre. Statt für soziale Gerechtigkeit und gegen Diskriminierung habe sie gegen sich selber gekämpft. Dank zwei Mitbewohnern konnte sie die Selbstständigkeit behalten. Ohne die beiden hätte sie wahrscheinlich schon länger die eigene Wohnung gegen ein Zimmer in einer betreuten Institution tauschen müssen, meint Jan dankbar. Vor zwei Jahren brach dann der Krebs aus.

Nane starb am 13. März.

 

Edit 15. Juni: In einer früheren Version des Artikels hiess es, dass der stadtbekannte Punk Bobby Moor an der Abdankung auf der Orgel Amazing Grace intonierte. Es war aber Nanes Bruder Bobby Geel, der Orgel spielte. Danke, Remy Klaus, für den Hinweis.

4 Kommentare zu Nichts Halbes, immer Vollgas

  • Marcel Elsener sagt:

    Wunderbarer Nachruf, danke, Wort für Wort klar, nah, gut. Es bräuchte mehr solche Lebenswürdigungen im Todesfall, ob von bekannteren oder sog. unbekannteren Menschen. Und wenn sie derart wahrhaft herzhaft geschrieben sind wie von Wolfi Steiger sowieso.

  • Marcel hat das schön gesagt. Danke, Wolfi.

  • Milanka sagt:

    Was für ein Leben, Nane! Einfach Klasse! Danke, dass du da warst!! Bis bald, guten Wein bringe ich mit…

  • Remy Klaus sagt:

    Ein wunderbarer Nachruf, in der Tat.
    Doch hier noch eine Korrektur und eine wichtige Ergänzung.
    Der Organist von Amazing grace war nicht Bobby der Punk, sondern ‚Bobby’ Geel, der Bruder der Nane.
    Und die originelle Todesanzeige stammt aus der Feder von Sylvia Geel, der Schwester der Nane.

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